Michael Baumgartner / Andreas Michel / Reto Sorg (Hgg.): Historiografie der Moderne. Carl Einstein, Paul Klee, Robert Walser und die wechselseitige Erhellung der Künste, München: Wilhelm Fink 2016, 341 S., 48 s/w-Abb., ISBN 978-3-7705-5922-0, EUR 39,90
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Oskar Walzels vielberufene Wendung von der wechselseitigen Erhellung der Künste mag heutigen Sehnsüchten nach mehr Interdisziplinarität vorgegriffen haben. Besonders erfolgreich war der Germanist damit vor knapp 100 Jahren nicht. [1] Indes ist der vorliegende Band nicht den damals etablierten Fachwissenschaftlern gewidmet, sondern mit Einstein, Klee und Walser dezidiert modernen Künstlern und Schriftstellern respektive Kunstkritikern. Anlass war eine Tagung, die 2013 in Bern am Zentrum Paul Klee stattfand.
Durch das Zusammentreffen waren die beteiligten Forschergemeinschaften dazu herausgefordert, den Vertretern der Moderne mit Theoremen der Transmedialität oder Pluridisziplinarität entgegen zu treten. Günstige Orientierung auf unsicherem Gelände bieten hierbei offenbar die stets mitlaufenden historiografischen Diskurse, die zwar bei Fachwissenschaftlern wie Walzel akademisch normiert auftreten mögen, bei den Avantgarden aber gleichsam ein Medium progressiven Denkens sein können. Insofern leistet der Tagungsband mit seiner Fragestellung einen wichtigen Beitrag zur Historiografie der künstlerischen Moderne, die kombinatorisch aufwendig zwischen Geschichtsphilosophie und Intermedialität verklammert wird. [2] Gerade diese hohen Ansprüche können aber angesichts des komplexen Theoriehaushalts gegenwärtig wie auch historisch nicht immer eingeholt werden. Zwei Beiträge im vorliegenden Band, die von Norman Kaspar und Dominik Müller, verweisen dabei selbstreflexiv auf diese Problemkonstellation. Müller thematisiert die Abbildungsökonomie in einigen Robert-Walser-Publikationen und zeigt, wie schwierig die angemessene Behandlung von Literatur und bildender Kunst in solchen Konstellationen ist. Kaspar kann mit dem Kunsthistoriker Kurt Breysig vorführen, wie schnell die Amalgamierung aller möglicher Wissenschaftsdiskurse in historiografisch höchst fragwürdige Konstruktionen umschlägt. Der Eindruck täuscht nicht: Die erfolgreiche Überwindung der akademischen Grenzpolizei sollte in der Moderne eher den progressiven Vertretern aus Kunst und Literatur vorbehalten sein - und mit Einstein, Klee und Walser nicht zuletzt den mehr oder weniger glücklichen Außenseitern des Kulturbetriebs.
Der Carl Einstein gewidmete erste Abschnitt beginnt in diesem Sinne mit einem grundlegenden Aufsatz von Jutta Müller-Tamm, die die historiografische Praxis des Kunstkritikers erhellend mit dem Begriff der Nachträglichkeit zusammenbringt und so zeigen kann, wie stark er die historische Überlieferung von der eigenen Gegenwart überformt sieht. Matthias Berning stellt danach Einsteins Handbuch der Kunst in den Kontext der zeitgenössischen Handbuch-Produktion, die gerade in den Jahren der Weimarer Republik deutlich politisch geprägt war. Maria Stavrinaki und Andreas Michel verweisen auf Einstein als Anthropologen, was anschaulich die überzeitliche Orientierung seines Geschichtsdenkens unterstreicht. Die anthropologische Notwendigkeit, Kunst und überhaupt Zeichen, Worte und Schrift zu produzieren, verbindet die entferntesten Kulturkreise und Epochen in einer entteleologisierten und anti-eurozentristischen Konstruktion, die bei Einstein proto-religiöse Züge annehmen kann. Julia Kerscher verdeutlicht mit Beobachtungen zum Bebuquin und zur Negerplastik die Synchronizität als grundlegende Qualität von Einsteins Historiografie, die abseits kanonischen Denkens für die Möglichkeit des Zusammensehens unterschiedlichster Zeiten sorgt.
Der zweite Block des Einstein-Abschnitts ist eher historiografischen Anwendungsfällen z.B. mit Blick auf den Surrealismus oder Gottfried Benn gewidmet. Trotz des disparaten Materials kann Klaus H. Kiefer an Einsteins Fragment BEB II bündig zeigen, wie Einsteins metamorphotisches Geschichtsdenken dem Mythos der Kindheit verpflichtet ist. Abgeschlossen wird die erste Sektion mit einem Beitrag von Charles W. Haxthausen, der Einsteins neu aufgefundene Reaktion auf die große Renaissance-Ausstellung kommentiert, die 1935 in Paris zu sehen war. Hier ist ein Wandel innerhalb seiner historiografischen Praxis zu konstatieren: Einstein bewertet die große Kunst der italienischen Renaissance nun überaus affirmativ. Mimetisch und zentralperspektivisch organisiert galt sie ihm als Avantgardisten noch als zu enges Korsett. Nun, nach der Fabrikation der Fiktionen und dem gescheiterten Projekt der Moderne, bot sie einen sicheren Rückzugsort. Dabei scheint Einstein überraschend den propagandistischen Aufwand verkannt zu haben, den der faschistische Staat Mussolinis damals betrieb.
Den Auftakt zum zweiten Abschnitt übernimmt Osamu Okuda, der die gescheiterten Pläne zu einer Vortragsreihe vorstellt, die Einstein durch die Vermittlung Klees 1933 fast nach Düsseldorf geführt hätten. Zum Ausgleich lässt der Künstler viele Passagen aus Einsteins Kunst des 20. Jahrhunderts in seine Vorlesungen an der Kunstakademie in Düsseldorf einfließen und schreibt somit eigenhändig die kunsthistoriografische Konstruktion des Kritikers fort. Grundsätzlicher Natur ist der Aufsatz von Rainer Lawicki, der die Wahrnehmungstheorien von Einstein und Klee vergleicht. Anhand wichtiger Texte, darunter Einsteins Ich sehe ein Haus und Klees Wege des Naturstudiums, wird deren parallele Entwicklung hin zum Sehen als einen aktiven, dynamischen Prozess nachvollziehbar gemacht. Lothar Schmitt kann indes zeigen, wie stark die eingangs thematisierte Differenz der verschiedenen Disziplinen Einfluss auf die historiografische Praxis nimmt. Herbert Reads Kunstgeschichtsschreibung unterscheidet sich nicht nur wesentlich von normierten akademischen Traditionen, sondern ist auch von den Apologeten der Moderne, allen voran von Alfred H. Barr und dem MoMA, abzuheben.
Der Walser gewidmete dritte Abschnitt beginnt mit einem Beitrag von Reto Sorg, der am stärksten Parallelen zwischen allen drei hier genannten Protagonisten herausarbeiten kann. Das Thema Tanz scheint in dieser Hinsicht prädestiniert für intermediale Zugänge zu sein. So fällt zunächst auch nicht auf, wie groß der Abstand zwischen Einstein und Klee hin zum Einzelgänger und Außenseiter Walser doch eigentlich ist. Auch der nächste Beitrag von Antonius Weixler schafft es, im komplexen Referat transvisueller Phänomene den geforderten Theoriezusammenhang der Tagung einzuholen. Jedoch sinkt danach merklich die Möglichkeit zum Zusammenhangsdenken, wenn etwa Jens Hobus die Sprachskepsis Walsers untersucht, die gesuchten Verbindungen zu Klee oder Einstein aber eher vernachlässigt. Zuvor ist jedoch noch Luisa Bankis Beitrag zu entnehmen, wie die Materialität des Schreibens und Zeichnens auch haptisch Einfluss auf das Geschichtsbild bei Klee und Walser nimmt. Moritz Baßlers abschließender Aufsatz beleuchtet Walsers Rolle in den Weißen Blättern und generell innerhalb der expressionistischen Publizistik, was die Kontextabhängigkeit künstlerischer Produktion unterstreicht, aber mit dem Bild des Arbeiters nur einige wenige Vergleichspunkte zu Einstein liefert.
Der vorliegende Band ist insgesamt gut ausgestattet und meist vorbildlich lektoriert. Naturgemäß kommen bei solchen Tagungen höchst disparate Beiträge, Themen und Theorieentwürfe zusammen. Letztlich gelang es fast allen Beiträgern, schlaglichtartig intermediale Phänomene zwischen den Werken von Einstein, Klee und Walser zu beschreiben. Ob diese in der Moderne generell Vehikel formaler wie gattungshistorischer Entgrenzung sind, wird weiter zu diskutieren sein. Die historiografischen Konstruktionen, die solche Grenzüberschreitungen häufig begleiten, sind noch nicht bündig erforscht, scheinen aber konträr zum progressiven Spiel der Formen verstärkt regressive Züge zu tragen. Darin dürfte sich erneut der Eindruck spiegeln, dass die Avantgarde selbst moderne wie antimoderne Züge trägt.
Anmerkungen:
[1] Zumindest nicht im Kontext einer fächerübergreifenden Gestalttheorie, die in Konkurrenz zur Geistesgeschichte stand, siehe dazu das Fazit zu Walzel bei Annette Simonis: Gestalttheorie von Goethe bis Benjamin. Diskursgeschichte einer deutschen Denkfigur, Köln 2001, 226-227.
[2] Hier sei nur exemplarisch auf ein grundlegendes Werk aus der mittlerweile umfangreichen Forschungsliteratur hingewiesen: Irina O. Rajewsky: Intermedialität, Tübingen 2002.
Christian Drobe