Rezension über:

Transkulturelle Verflechtungen. Mediävistische Perspektiven. Kollaborativ verfasst von Netzwerk Transkulturelle Verflechtungen. Georg Christ, Saskia Dönitz, Daniel G. König, Şevket Küçükhüseyin, Margit Mersch, Britta Müller-Schauenburg, Ulrike Ritzerfeld, Christian Vogel und Julia Zimmermann, Göttingen: Universitätsverlag Göttingen 216, 397 S., ISBN 978-3-86395-277-8, EUR 36,00
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Rezension von:
Stephan Conermann
Bonn
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Stephan Conermann: Rezension von: Transkulturelle Verflechtungen. Mediävistische Perspektiven. Kollaborativ verfasst von Netzwerk Transkulturelle Verflechtungen. Georg Christ, Saskia Dönitz, Daniel G. König, Şevket Küçükhüseyin, Margit Mersch, Britta Müller-Schauenburg, Ulrike Ritzerfeld, Christian Vogel und Julia Zimmermann, Göttingen: Universitätsverlag Göttingen 216, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 5 [15.05.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/05/30498.html


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Forum:
Diese Rezension ist Teil des Forums "Vormoderne Transkulturalitätsforschung" in Ausgabe 17 (2017), Nr. 5

Transkulturelle Verflechtungen. Mediävistische Perspektiven

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Das hier vorgelegte Werk stellt die Abschlusspublikation des von Daniel König initiierten und von 2012 bis 2016 geleiteten DFG-Netzwerkes "Transkulturelle Verflechtungen im mittelalterlichen Euromediterraneum (500-1500)" dar. Die Gruppe hatte sich anfangs viel vorgenommen: "Im Vordergrund steht (...) zum einen die Frage nach der Dynamik und den Mechanismen von Verflechtungsprozessen: Ausgangs- und Rahmenbedingungen werden auf verschiedenen Ebenen unter Berücksichtigung ihrer chronologischen Sequenz sowie politischer, wirtschaftlicher und (im weitesten Sinne) kultureller Faktoren untersucht. Zum anderen stellt sich die Frage nach Typen von Verflechtungen, hier verstanden als Ergebnisse von Verflechtungsprozessen: Die typologisierende Herangehensweise soll nicht nur a priori zwischen räumlich-geographischer, zeitlicher und soziokultureller Ebene unterscheiden, sondern neu differenzieren, wie und wo sich Verflechtungen manifestieren. Insbesondere Hybridphänomene in Kunst, Religion, Literatur und Sprache, Netzwerke etwa genealogischer oder professioneller Art, aber auch die identitäre Positionierung von Einzelnen und Gruppen stehen dabei im Zentrum des Interesses. Im Rückgriff auf die gesammelte Kompetenz des Netzwerks sind schließlich makrohistorische Aussagen zu Konjunkturen von Verflechtung und Entflechtung möglich." (http://gepris.dfg.de/gepris/projekt/216374758) Ziel war offenbar von vornherein, in einem kollaborativen Denk-, Austausch- und Schreibprozess ein gemeinsames Buch zu dem Thema produzieren. An dem Text haben insgesamt neun MediävistInnen aus unterschiedlichen Disziplinen (u.a. Germanistik, Geschichtswissenschaft, Islamwissenschaft, Judaistik, Kunstgeschichte, Philosophie) mitgearbeitet. Allerdings entschloss man sich am Ende dann doch dazu, hinter einzelne Teile die Namen derjenigen zu setzen, die hauptsächlich für die Entstehung des jeweiligen Abschnittes verantwortlich waren.

Was ist nun dabei herausgekommen? Der Rezensent ist sich nicht so sicher, wie er das Produkt einschätzen soll. Zunächst einmal muss der Leser bereit sein, sehr viele konzeptionelle und theoretische Überlegungen lesen und nachvollziehen zu wollen. Darüber hinaus finden sich zur Erläuterung der vorgebrachten Thesen zahlreiche kürzere, direkt an einzelnen Quellen erarbeitete Beispiele aus unterschiedlichen Zeiten und unterschiedlichen gesellschaftlichen Zusammenhängen. Beginnen wir mit Begrifflichkeiten. Natürlich geht es in der Wissenschaft immer um die Verwendung einer geschärften Terminologie, aber ist es wirklich nötig, stets aufs Neue alle gegenwärtig im Umlauf befindlichen Zugänge und Begriffe diskutieren zu müssen, um dann selbst zu einer Definition dessen zu kommen, was einen wirklich interessiert? So sind die Ausführungen zu Kultur, Akkulturation, Inter- und Multikulturalität, Kulturtransfer, Passage, Entanglement, histoire croisée, Netzwerke, Hybridisierung, Palimpsest zwar interessant, aber eigentlich überflüssig. Den Autoren geht es im Kern um "Transkulturelle Verflechtungen". Sie entwickeln dazu im Laufe ihrer Arbeit ein komplexes Modell: "Das Zusammentreffen verschiedener Elemente ist Voraussetzung für jegliche Art der Verflechtung. Die dabei entstehenden Beziehungsräume lassen sich unterschiedlich definieren. Einerseits kann man sie rein zeitlich, d.h. synchron und diachron fassen. Zusätzlich kann man sie aber auch geographisch und sozial definieren. Zu berücksichtigen ist, dass all diese Beziehungsräume sowohl auf einer 'realen' als auch einer fiktiven Ebene existieren können, wobei zwischen diesen beiden Ebenen wiederum Verbindungen bestehen. Bei der Entstehung von Beziehungsräumen ist Bewegung von grundlegender Bedeutung; ihr Radius kann sehr groß, aber auch so minimal sein, dass sie kaum erkennbar ist. Zudem muss die Bewegung nicht in direkter zeitlicher Nähe zur beobachteten Verflechtung stattfinden. Transkulturelle Verflechtungen können sich ebenfalls in der Aktivierung oder semantischen Änderung von bereits langfristig 'vor Ort' existierenden kulturellen Traditionen manifestieren. Begegnungen, die in Austausch und intensivere Formen der Verflechtung münden können, finden im Zusammenspiel von Beziehungsräumen, Bewegung und agency statt, die in den folgenden Unterkapiteln thematisiert werden." (141) Hieraus werden nun drei Strukturmodelle abgeleitet, die Verfechtungsprozesse und -ergebnisse typologisch fassen sollen: (1) intentional organisierte Netzwerke, (2) auktorial geschaffene Gewebe/Textur (textura), und (3) amorph erscheinende, besonders vielschichtig und oft auch obskur anmutende Verbindungsstrukturen in rhizomatischen Geflechten. Für "Phänomene, die eine so intensive Verflechtung (Verflochtenheit) aufweisen, dass Ausgangspunkte oder Zwischenformen unterschiedlicher kultureller Traditionen nicht mehr als solche zu identifizieren sind bzw. dass die Einzelbestandteile der kulturellen Mischung nicht mehr erkennbar sind" (208) wird zudem das Konzept der "Fusion" eingeführt. Allein: wo es Verflechtungen gibt, gibt es in der Regel auch Entflechtungen. Auch hierzu werden uns theoretische Schneisen gelegt, denn damit "(...) kann die Auflösung komplexer soziokultureller Zusammenhänge und Interdependenzen untersucht werden. Die behandelten Quellen zeigen, dass sich Entflechtungen in politischen, wirtschaftlichen und sozialen Prozessen sowie in verschiedenen Medien manifestieren. Dabei tendieren sie bzw. ihre mediale Präsentation entweder zur (Re-)Strukturierung der Fragmente eines Kompositums oder zu ihrer Destrukturierung oder Zerstörung." (225) Zu guter Letzt entwickeln die Autoren sogar ein idealtypisches 4-Phasen-Modell für die beiden Phänomene "Verflechtung" und "Entflechtung." (279, 281)

Alle diese auf den ersten Blick plausibel erscheinenden konzeptionellen Überlegungen werden direkt aus kürzeren Originaltextinterpretationen abgeleitet. Und genau hier setzen meine Bedenken ein. Zu Beginn des Werkes versuchen die Autoren aus ihrem textuellen und materiellen Quellen Semantiken und Diskurse von Verflechtungsphänomenen abzuleiten. Sie stellen jedoch selbst fest, dass die historische Semantik ein in höchstem Masse problematisches und komplexes Feld ist und in den untersuchten Texten Aussagen oder Reflexionen über Verflechtungen nur sehr selten vorkommen. Insgesamt fällt das Ergebnis mager aus: "Trotz den in den Quellen enthaltenen Konzeptualisierungen, Beschreibungen und Konstruktionen von Verflechtungsprozessen steht die Verflechtungsforschung insgesamt vor dem Problem der zeitlichen Distanz. Der Prozess ist nirgends mehr unmittelbar beobachtbar. Für jede einzelne Text- und Objektquelle gilt, dass sie eine Momentaufnahme transkultureller Verflechtungsprozesse bietet, diese aber nicht als solche abbildet. In gewisser Weise und in je unterschiedlichem Maße können diese Quellen zugleich Ergebnisse, Medien, Abbilder und Auslöser von Verflechtung sein." (139) Dieser Befund gilt eigentlich für alle oben genannten theoretischen Überlegungen. Die Empirie wird der Theorie nicht wirklich gerecht bzw. die präsentierte Empirie führt nicht zu theoretisch überzeugenden Überlegungen. Die Texte hinterlassen überhaupt zusammengenommen einen sehr heterogenen und eher zufälligen Eindruck. Es fehlt stets der jeweilige Kontext. Zudem stellt sich auch die Frage der Repräsentanz. Alles in allem scheint mir jedoch der Ansatz sehr interessant und das Buch voller Anregungen zu sein. Das kollaborative Schreiben hinterlässt einige Fragezeichen.

Stephan Conermann