Rezension über:

Tobias Temming: Widerstand im deutschen und niederländischen Spielfilm. Geschichtsbilder und Erinnerungskultur (1943-1963), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2016, XI + 447 S., 6 Farb-, 36 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-045631-8, EUR 99,95
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Rezension von:
Markus Wegewitz
Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität, Jena
Empfohlene Zitierweise:
Markus Wegewitz: Rezension von: Tobias Temming: Widerstand im deutschen und niederländischen Spielfilm. Geschichtsbilder und Erinnerungskultur (1943-1963), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2016, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 9 [15.09.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/09/30303.html


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Tobias Temming: Widerstand im deutschen und niederländischen Spielfilm

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"Where the historical record cried out against [...] distortion [...] national attention was consciously diverted [...] to examples and stories which were repeated and magnified ad nauseam, in novels, popular histories, radio, newspapers, and especially cinema" [1], schrieb Tony Judt über die Darstellung des Widerstands gegen den Nationalsozialismus im Europa der Nachkriegszeit. Judt war einer der ersten Historiker, die keinerlei Scheu vor dem Zugriff auf Spielfilme als Quelle für die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus an den Tag legten. Mittlerweile ist aus der Annäherung an den Film ein eigenes Forschungsfeld zwischen Film-, Geschichts-, und Kulturwissenschaft entstanden. In diesem Feld gab es gerade in den letzten Jahren neue Impulse, zu denen auch die Dissertation von Tobias Temming zählt. [2] Sie entstand 2015 am Zentrum für Niederlande-Studien der Universität Münster.

Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Frage, welche gesellschaftlichen Kräfte und schöpferischen Intentionen sich hinter der Darstellung des Widerstands im Film verbergen. Die oft komplexe und aus verschiedenen Motiven heraus erklärte Gegnerschaft zum Nationalsozialismus entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum politischen Gründungsmythos in beinahe allen europäischen Staaten. Als Massenmedium, Kontrapunkt und Katalysator beeinflussten Spielfilme diese Mythenbildung entscheidend.

Temming gliedert seine Untersuchung in vier Kapitel, in denen er die Entwicklung in den Niederlanden und in Westdeutschland weitestgehend chronologisch abhandelt und auf Entstehung, politische Debatten und die Rezeption der Widerstandserzählung im Spielfilm eingeht. Im Mittelpunkt der Darstellung stehen neun Spielfilme von im Zeitraum 1942 bis 1962 (in chronologischer Reihenfolge: "One of our aircraft is missing", "Niet tevergeefs", "L.O.-L-K.P. ", "Canaris", "The desert fox", "Des Teufels General", "Der 20. Juli", "Es geschah am 20. Juli", "De overval"). Temming ergänzt diese Fallstudien mit weiterem Aktenmaterial aus staatlichen Archiven, vor allem aber um zahlreiche Artikel aus regionalen und überregionalen Zeitungen.

Den theoretischen Rahmen der Untersuchung bildet das Verständnis des Spielfilms als "Segment der Erinnerungskultur" (403). Die Darstellung der niederländischen Fluchthilfeorganisationen für abgestürzte alliierte Piloten, der Offiziere um Stauffenberg oder des "Mythos Rommel" wird in Temmings Studie konsequent in ihre gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Rahmenbedingungen eingebettet. In dieser Lesart sind Filme einerseits Produkte der Gesellschaften, in denen sie entstehen, und entfalten andererseits eine eigene Dynamik, um eine bestimmte Interpretation der Geschichte des Zweiten Weltkriegs zu etablieren.

Es überrascht wenig, dass Temming mit diesem Verständnis die älteren, begrenzteren Deutungsversuche aus der Geschichtswissenschaft einer Revision unterzieht. Insbesondere an zwei Thesen arbeitet sich der Autor ab: für Westdeutschland erweitert und präzisiert Temming das Urteil von Knut Hickethier, der die "Widerstandsfilme" der 1950er- und 1960er-Jahre vornehmlich mit der Rehabilitierung der deutschen Wehrmacht und der Steigerung des "Wehrwillens" in der Bevölkerung in Zusammenhang brachte. Für den niederländischen Teil der Filmproduktionen argumentiert Temming gegen die Interpretation Egbert Barten, der die ökonomischen Zwänge der Filmwirtschaft und deren Orientierung am herrschenden Geschichtsbild betont hat.

Temming positioniert sich gegenüber diesen beiden Thesen überzeugend, indem er Produktionsbedingungen, die Entwicklung der Filmwirtschaft, sowie die Beziehungen zwischen Regie, staatlichen Stellen, Interessensverbänden und Geschichtswissenschaft in den Blick nimmt. Die werkimmanente Analyse der einzelnen Filme - gewissermaßen die medienwissenschaftliche Komponente dieser interdisziplinären Untersuchung - tritt dabei fast in den Hintergrund. Temming macht deutlich, dass die Zeiten vor der Ausstrahlung der Fernsehserie "Holocaust" in Bezug auf das Narrativ des Widerstands dynamischer waren, als die Forschung auf den Gebieten der Literatur und Vergangenheitspolitik gemeinhin vermuten lässt.

Der Einfluss von staatlichen Stellen auf missliebige Erzeugnisse der Filmindustrie war begrenzt, wie Temming etwa in Unterkapitel "Episode 08/15 - Das Bundespresseamt schlägt zurück" herausarbeitet. Nur in wenigen Fällen gelang es der westdeutschen oder niederländischen Regierungen, erfolgreich in die Filmproduktionen zu intervenieren. Auch die Deutungen des Widerstands in den Filmproduktionen widersprach an einigen Stellen dem erwarteten kollektiven Beschweigen und unkritischen Heroisieren: Werke wie der Verfilmung von Carl Zuckmayers Bühnenstück "Des Teufels General" durch Helmut Käutner konfrontierten die westdeutsche Öffentlichkeit mit ungewohnt deutlichen Überlegung zu Schuld und Mitläufertum, boten aber auch mit dem "widerständen Mitläufe[r]" (137) eine Figur, mit der sich das Publikum bequem arrangieren konnte.

Temming verwendet in seiner Untersuchung durchgehend den Begriff des "antifaschistischen Widerstands" (21) um die im Spielfilm dargestellte Handlung als Aktivum verbunden mit einem persönlichen Risiko zu beschreiben. Gerade weil Temming die Erzählung des Widerstands als komplexe Geschichte zu schreiben versucht, wirkt dieser Begriff allerdings holzschnittartig und weckt Assoziationen zur Monopolisierung des Widerstandsbegriffs, wie sie etwa in den sozialistischen Staaten Europas betrieben wurde. Die Untersuchung hätte von einer ausführlicheren, auch begriffsgeschichtlichen Reflexion des Widerstandsbegriffs sicherlich profitiert. Ebenfalls drängt sich an einigen Stellen der Eindruck auf, dass der Text ein besseres Lektorat verdient hätte, etwa wenn der Psychologe Helmut Nolte zum Historiker Ernst Nolte gemacht wird (376, Fußnote 6).

Aber das trübt den positiven Gesamteindruck der Untersuchung nicht. Durch die ausführliche Kontextualisierung der einzelnen Spielfilme enthält das Buch viel neues Wissen über die einzelnen Filme und über die gesellschaftliche Wirksamkeit der Erzählungen vom Widerstand. Obwohl Temming selbst seinen Ansatz als "komparatisti[sch]" (406) versteht, nimmt der Vergleich zwischen Westdeutschland und den Niederlanden nur einen geringen Raum in der Studie ein. Temming leistet keine systematische Gegenüberstellung der Widerstandserzählungen im deutschen und niederländischen Spielfilm. Die Stärke von Temmings Dissertation liegt vielmehr in den einzelnen, durchweg eindrucksvoll ausgeführten Fallbeispielen. Der übergreifende Ansatz, Spielfilme nicht getrennt vom gesellschaftlichen Diskurs zu behandeln und eine kontextualisierte Geschichte des Widerstandsmythos zu schreiben, zeigt sich als innovativ und zukunftsweisend.


Anmerkungen:

[1] Tony Judt: The Past is Another Country. Myth and Memory in Postwar Europe, in: Daedalus 121 (1992), Nr. 4, 83-118, hier 90.

[2] Siehe weiterhin: Wendy Burke: Images of Occupation in Dutch Film. Memory, Myth and the Cultural Legacy of War, Amsterdam 2016.

Markus Wegewitz