Rezension über:

Jeanette Erazo Heufelder: Der argentinische Krösus. Kleine Wirtschaftsgeschichte der Frankfurter Schule, Berlin: Berenberg 2017, 208 S., ISBN 978-3-946334-16-3, EUR 24,00
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Rezension von:
Herbert Jaumann
Neunburg
Empfohlene Zitierweise:
Herbert Jaumann: Rezension von: Jeanette Erazo Heufelder: Der argentinische Krösus. Kleine Wirtschaftsgeschichte der Frankfurter Schule, Berlin: Berenberg 2017, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 9 [15.09.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/09/30423.html


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Jeanette Erazo Heufelder: Der argentinische Krösus

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Wer sich für philosophische oder politische Theorien interessiert, fragt nach Ideen, Debatten und Autoren, aber gewöhnlich nicht nach deren institutionellen Bedingungen oder gar danach, woher das Geld dafür kam. Bei einem Interesse für die Kritische Theorie der Frankfurter Schule ist das anders, zumindest wenn man Aufschluss auch über die Geschichte ihrer Ermöglichung gewinnen möchte. Ein Grund ist, dass sowohl die 1914 ein paar Monate vor Ausbruch des Weltkriegs errichtete Frankfurter Universität als auch das 1923 in enger Kooperation damit gegründete Institut für Sozialforschung keine staatlichen Institutionen, sondern Stiftungen des städtischen Wirtschaftsbürgertums in privater Trägerschaft gewesen sind - das zuletzt genannte sogar die Stiftung einer einzigen Familie, nämlich der von Hermann Weil (1868-1927) und seinem Sohn Felix (1898-1975). Wer darüber Näheres wissen wollte, sah sich bisher auf wenige entlegen publizierte Spezialarbeiten angewiesen, während die bekannten Monographien von Martin Jay (engl. 1973, deutsch 1976) und Rolf Wiggershaus (1986, erweiterte Auflage als E-Book 2015) die Frühzeit des Instituts seit 1923 zwar knapp behandeln, aber nur um möglichst rasch zur "Genese der Kritischen Theorie" (Jay) überzugehen.

Die Ethnologin, Dokumentarfilmerin und Südamerika-Kennerin Erazo Heufelder, deren Vater aus Ecuador stammt, hat die Geschichte des Instituts nun in eine Biographie ihres Gründers und lebenslangen Mäzens eingelagert. Deshalb setzt ihre Erzählung, die in drei biographische Epochen gegliedert ist (1898-1930, 1930-1950, 1950-1975) die Akzente neu und schlägt einen anderen Weg ein. Dass Heufelder eine höchst ergiebige Monographie gelungen ist, die auch Interessenten an der Frankfurter Schule fasziniert und mit größtem Gewinn lesen werden, liegt u.a. an drei Zielsetzungen: Es wird (1) die Rolle von Hermann Weil, der es als jüdischer Kaufmannssohn aus dem badischen Kraichgau durch den Getreideexport aus Argentinien zum Multimillionär gebracht hatte, genauer charakterisiert und von älteren Verzerrungen befreit; zum ersten Mal wird (2) die gesamte Biographie seines Sohnes Felix ausführlich und detailgenau rekonstruiert: 1907 die Übersiedlung des Schülers aus Buenos Aires nach Frankfurt (ein Jahr vor der Rückkehr des Vaters nach Deutschland) und das Abitur am Goethe-Gymnasium, um 1918 die Wendung des Millionenerben zu einem stets undogmatisch gebliebenen Marxismus (Weil war nie Mitglied der KPD), das kurze Wirtschaftsstudium beim Kathedersozialisten Robert Wilbrandt in Tübingen und die dortige Ausweisung als ausländischer Sympathisant des "Spartacus", 1920 die Promotion über "Sozialisierung" bei Adolf Weber in Frankfurt (nicht Alfred Weber, 32). Vor allem arbeitet die Autorin seine nicht nur finanziell entscheidende Rolle bei der Gründung, Entwicklung und Sicherung des Frankfurter Instituts durch die Familienstiftung und die wiederholte Zuwendung von Riesensummen heraus und betont die Vielfalt seiner heute kaum bekannten mäzenatischen Leistungen seit den frühen 20er Jahren. Schließlich (3) versichert sich Heufelder bei ihrer akribischen Schilderung der nicht immer leicht verständlichen finanziellen Transaktionen und oft verwickelten Ereignisse einer Vielzahl von Quellen und Archivalien, von den Frankfurter Archiven bis zu vielen persönlichen Nachlässen und Korrespondenzen. Entscheidend sind hier zum einen ihre Kenntnis der südamerikanischen Literatur und überhaupt die Nutzung der verfügbaren ausländischen, darunter auch argentinischen Quellen und Forschungen (die in das reichhaltige Literaturverzeichnis eingegangen sind, vermisst wird jedoch ein Register), zum anderen die durchgängige Auswertung der ungedruckten, unredigierten und Fragment gebliebenen Lebenserinnerungen von Felix Weil, die dieser in seinen letzten Lebensjahren in den USA aufgeschrieben hat, genauer des Teils derselben, der ins Frankfurter Stadtarchiv gelangt ist. [1]

Von besonderem Wert ist neben der ausführlichen Schilderung der vielen mäzenatischen Unternehmungen Weils in den Jahren der Weimarer Republik - als "the man with the money" hat der junge jüdische Intellektuelle einen Großteil der linken Kulturszene Berlins unterstützt, ein Vergleich mit Bill Gates ist nicht abwegig - die Rekonstruktion der Institutsgründung. Die Bekanntschaft mit Max Horkheimer und Friedrich Pollock, beide ebenfalls sozialistisch gesinnte Unternehmersöhne, geht auf das Jahr 1920 zurück; zu diesem Freundeskreis gehörte auch Kostja, der Sohn Clara Zetkins, sowie Weils erste Frau Käte. Nach Hochzeit und längerem Aufenthalt in Argentinien wurde 1922 mit der Gesellschaft für Sozialforschung die Stiftungsträgerin des Instituts geschaffen, dessen Gründung Anfang 1923 erfolgte. Eine erste Veranstaltung war dann die "Erste Marxistische Arbeitswoche" (EMA), die Pfingsten 1923 in einem Bahnhofshotel bei Ilmenau in Thüringen stattfand (41f., schon Buckmiller hat 1988 Weils falsche Datierung auf 1922 richtiggestellt), inspiriert und organisiert vor allem von Karl Korsch (1886-1961), dem wichtigsten Freund dieser Gründungsjahre, der 1926 als sogenannter Linksabweichler aus der zunehmend stalinistischen KPD ausgeschlossen wurde. Maßgeblich war von Anfang an eine dezidiert wissenschaftliche und Partei-unabhängige marxistischen Orientierung. In den frühesten Gründungsdokumenten sei "über die marxistische Ausrichtung kein Wort" gefallen, man bemühte sich um "begriffliche Verschleierung marxistischer Semantik" (46). Erst in seiner Eröffnungsrede bei der Einweihungsfeier des (natürlich von Weil bezahlten) Institutsneubaus an der Victoria-Allee am 22. Juni 1924 sprach der Direktor Carl Grünberg Klartext: "Auch ich gehöre zu den Gegnern der geschichtlich überkommenen Wirtschafts-, Gesellschafts- und Rechtsordnung und zu den Anhängern des Marxismus." Felix Weil habe, fährt Heufelder fort, "mit angehaltenem Atem Grünbergs Worten gelauscht, die zum ersten Mal den marxistischen Charakter des Instituts vor den Vertretern der Universitätsbehörde offenlegten. Ihren versteinerten Gesichtern war anzusehen, dass sie sich überrumpelt fühlten. Wie ein Kuckucksei hatte man ihnen ein marxistisches Institut untergejubelt." (52)


Anmerkung:

[1] Bisher haben u.a. folgende Autoren diese Erinnerungen benutzt: Wolfgang Schivelbusch: Intellektuellendämmerung. Zur Lage der Frankfurter Intelligenz in den zwanziger Jahren, Frankfurt/M. 1985; Helmuth Robert Eisenbach: Millionär, Agitator und Doktorand. Die Tübinger Studienzeit des Felix Weil (1919), in: Bausteine zur Tübinger Universitätsgeschichte 3 (1987), 179-216, und Michael Buckmiller: Die "Marxistische Arbeitswoche" 1923 und die Gründung des "Instituts für Sozialforschung", in: Grand Hotel Abgrund. Eine Photobiographie der Frankfurter Schule, hg. von Willem van Reijen / Gunzelin Schmidt Noerr, Hamburg 1988, 141-179. Ulrike Migdal hatte für ihre Dissertation (Die Frühgeschichte des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, Frankfurt/M. / New York 1981) noch persönlichen Kontakt zu Felix Weil, kannte dessen Memoiren aber noch nicht und überschätzt und missversteht die Rolle Hermann Weils im Vergleich zu der seines Sohnes.

Herbert Jaumann