Claudia Engler: Regelbuch und Observanz. Der Codex A 53 der Burgerbibliothek Bern als Reformprogramm des Johannes Meyer für die Berner Dominikanerinnen (= Kulturtopographie des alemannischen Raums; Bd. 8), Berlin: De Gruyter 2017, XIII + 355 S., ISBN 978-3-11-044779-8, EUR 119,95
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Auf Anregung von Nigel Palmer und Jeffrey Hamburger, Herausgeber der Reihe 'Kulturtopographie des alemannischen Raums', ist nun endlich die bisher nur wenigen Spezialisten bekannte Dissertation von Claudia Engler aus dem Jahr 1998 über den Codex A 53 der Burgerbibliothek Bern im Druck erschienen. Es ist der Verfasserin zu danken, dass sie sich trotz ihrer zeitlichen Beanspruchung als Direktorin der Burgerbibliothek die Mühe gemacht hat, ihre umfangreiche Arbeit für den Druck nochmals durchzusehen und mit einem Vorwort auf einige wichtige Neuerscheinungen zum Thema hinzuweisen, in die ihre Forschungsergebnisse teilweise bereits eingeflossen waren.
Der Codex A 53 kam ursprünglich aus dem observanten Dominikanerinnenkloster 'St. Michael in der Insel'. Er befand sich dort im Besitz der Priorin Anna von Sissach (1445-1461, † 1462), die den Codex wohl auch geschrieben und mit Hilfe ihrer Mitschwestern illustriert hatte. Redaktor war nach den Untersuchungen von Engler der bekannte Ordenshistoriograph Johannes Meyer († 1485) aus dem observanten Basler Predigerkloster, der seit 1454-1458 das Amt des Beichtvaters im Kloster versah. Meyer war nach Engler auch der Verfasser der anonymen Chronik des Inselklosters, die vor einigen Jahren in einer Handschrift der Universitätsbibliothek Breslau aufgefunden wurde und leider bislang noch nicht ediert ist.
Die besondere Bedeutung des Berner Codex A 53 liegt nach Engler darin begründet, dass Meyer hier ein geschlossenes Korpus von Verfassungstexten eines observanten Dominikanerinnenklosters zusammengestellt hatte, das über den lokalen Fall des Inselklosters ganz allgemein für die Reform der Frauenklöster innerhalb der Provinz Teutonia Gültigkeit beanspruchen kann. Zu diesem Ergebnis gelangt Engler in fünf Schritten. Ausgangspunkt ist die wechselhafte Geschichte des 1286 gestifteten Klosters, das 1295 nach einem Brand seinen alten Standort auf der Aare-Insel und damit auch das Projekt einer Klostergründung aufgeben musste, worauf ein Teil der Inselschwestern in die Stadt Bern zog und in einer Beginensammlung beim Predigerklosters weiterexistierte. Ende des 14. Jahrhundert bezog die Sammlung offenbar neue Gebäude mit einer Kirche, die bereits 1405 dem Stadtbrand zum Opfer fielen. Ein Neuanfang gelang erst im Jahre 1419, als das Berner Predigerkloster und mit ihm auch die Sammlung auf Betreiben des Rates von observanten Kräften reformiert wurden. 1439 war der Prozess der Umgestaltung des Inselklosters soweit abgeschlossen, dass es 1439 als observantes Frauenkloster mit Klausur dem Orden inkorporiert werden konnte. Engler übernimmt hier weitgehend die Sichtweise Meyers, der in seiner Klosterchronik das Ganze als Erfolg der Observanz darstellte und gleichzeitig bestrebt war, eine Kontinuität zwischen dem 1286 gestifteten Kloster und dem späteren observanten Dominikanerinnenkloster herzustellen. Diesem Ziel diente auch der von ihm erstellte Liber Vitae mit den Namen aller verstorbenen Insassinnen des Klosters, der zusammen mit den Abschriften der im Kloster aufbewahrten Dokumente einen wichtigen Bestandteil des Codex A 53 bildet.
Im zweiten Hauptteil wird der Codex A 53 mit einer detaillierten Beschreibung näher vorgestellt und in diesem Zusammenhang auch die Rolle von Johannes Meyer bei der Auswahl und Übersetzung der aufgenommenen Texte neu beleuchtet. In dritten Teil folgt die sorgfältige Edition der eigentlichen Verfassungstexte des Codex A 53, für die Engler dreizehn weitere Parallelhandschriften herangezogen hat. Zu diesem Textkorpus gehört die lateinische Augustinusregel für Dominikanerinnen ebenso wie deren volkssprachliche Übersetzung, ferner die ebenfalls volkssprachliche Fassung der Konstitutionen für Dominikanerinnen sowie die Reformordinationen für Dominikanerinnen. In der anschließenden Interpretation befasst sich Engler dann ausführlich mit den Besonderheiten der jeweiligen Textsorte. Sie weist auf die historisch bedingten unterschiedlichen Fassungen der lateinischen Augustinusregel für Dominikanerinnen und den männlichen Ordenszweig hin. Es gelingt ihr zudem, zwei Typen von Fassungen für die volksprachlichen Übersetzungen zu unterscheiden, die innerhalb der Frauenklöster der Teutonia im Gebrauch waren. Was die volkssprachlichen Konstitutionen anbelangt, die alle auf dem lateinischen Text der von Humbert de Romans erlassenen Konstitutionen beruhen, so unterscheidet Engler auch dort eine jüngere Übersetzung aus der Zeit der Observanz, die sich näher an den Text des Ordensgenerals hält und von Johannes Nider oder Georg Falder-Pistorius stammen könnte. Ausgehend von diesem Befund nähert sich Engler im vierten Teil ganz allgemein dem mit dem modernen Begriff 'Regelbuch' umschriebenen Buchtypus, der ihrer Ansicht nach besonders kennzeichnend ist für die dominikanische Observanz. Diese enthielten nach Engler neben den bereits erwähnten Grundtexten des Berner Codex häufig noch die lateinische Auslegung der Augustinusregel des Ps. Hugo von St. Viktor. Sie konnten aber auch ergänzt werden durch Visitationsvorschriften, Gelübde, Anniversarien oder Klosterchroniken. Im weiteren Sinn zählt Engler auch das 'Ämterbuch' und das 'Buch der Ersetzungen' von Johannes Meyer als eine Art Erweiterung zu den Regelbüchern. Sie alle sind dem Bedürfnis der Observanz nach schriftlicher Festlegung der normativen Grundlagen des Ordenslebens entsprungen und bestimmten nach Engler auch den Alltag im Kloster, wie sie am Beispiel der Tischlesungslektüre in St. Katharinen in Nürnberg aufzeigen kann. Aus diesem Grund schlägt die Autorin vor, statt des Begriffes 'Regelbuch' die Bezeichnung Liber de vita monastica für diese Literaturgattung zu verwenden.
Im fünften und letzten Teil behandelt Engler schließlich die Reformordinationen für Dominikanerinnen, die in einem solchen Regelbuch für das observante Leben im Kloster nicht fehlen durften. Um diese Textsorte adäquat einzuordnen, nimmt die Autorin nun die ganze Geschichte der Observanz bis 1475 in den Blick. Behandelt werden zunächst die frühen Reformordinationen von Konrad von Preußen für Schönensteinbach (1397). Sie waren eingebunden in die Reform Raymunds von Capua († 1399), der die Reformziele mit Hilfe der Ernennung von Vikaren durchzusetzen versuchte. Unter seinen Nachfolgern Thomas von Fermo (1402-1414) und Leonardo Dati (1414-1425) wurde die Sonderstellung der Vikare aufgehoben und die Reform wieder in die Hände der Provinziale gelegt. Engler verwendet dafür den Begriff einer Observanz sub ministris. Dieser Begriff wurde 1978 von Brigitte Degler-Spengler eingeführt, um bestimmte Erneuerungsbemühungen innerhalb des Franziskanerordens zu kennzeichnen und ist aus diesem Grund meines Erachtens nicht einfach übertragbar auf die besonderen Verhältnisse im Dominikanerorden. Richtig ist, dass mit einer Reform sub ministris eine Abspaltung der observanten Konvente verhindert werden sollte, was bekanntlich bei den Franziskanern nicht gelang, bei den Dominikanern der deutschen Provinz jedoch mit Erfolg vermieden wurde. Die Dominikaner kannten aber keine "Observanz außerhalb der Observanz" (Brigitte Degler-Spengler), sondern nur eine einzige Observanzbewegung, die trotz gelegentlicher Krisen innerlich soweit gefestigt war, dass sie ihre Ziele auch mit oder ohne eigene Vikare in Zusammenarbeit mit den Ordensoberen erreichen konnte und 1475 die Mehrheit der Konvente stellte. Was die Reform der Frauenklöster anbelangt, so hatten nach Engler die Werke von Johannes Meyer aus seiner Berner Zeit, also sowohl der Codex 53 wie das 'Ämterbuch', das 'Buch der Ersetzungen' und die Klosterchroniken entscheidend zur Durchsetzung der Observanz beigetragen. Meyer arbeitete damals eng mit dem langjährigen Provinzial Petrus Wellen († 1469) aus Antwerpen zusammen. Deshalb nimmt Engler aufgrund von Hinweisen in Meyers persönlichem Handbuch, das sich heute in der Universitätsbibliothek Basel befindet (Cod. E III 13), an, dass Wellen ihm und seinem Basler Ordensbruder Heinrich Schretz als vicarius monialis den Auftrag erteilt hatte, die Ordinationen Konrads von Preußen zu revidieren. Diese revidierte lateinische Fassung hatte nach Engler in einer von Meyer besorgten volkssprachlichen Fassung unter neuen Titeln bereits zu einer sehr frühen Zeit Aufnahme in den Berner Codex 53 gefunden. Sie liegen jetzt erstmals in gedruckter Form vor. Gleichfalls ediert hat Engler im Anhang zusätzlich Meyers kommentierte Abschrift der alten Ordinationen aus dem Basler Codex E III 13, so dass sich ihre Argumentation leicht überprüfen lässt. Aus all dem ergibt sich ein völlig neues Bild der Reformtätigkeit Meyers. Der Berner Beichtvater galt offenbar als Fachmann für die rechtlichen Grundlagen der Durchführung der Reform und für die normative Festlegung des Lebensalltages in den reformierten Frauenklöstern. Das erklärt nicht nur die weite Verbreitung seiner Schriften, sondern auch seinen unermüdlichen Einsatz für die Reform des weiblichen Klosterlebens.
Ein Verzeichnis der Dominikanerinnenklöster der Teutonia im Jahre 1454 und ein ausführliches Register der Namen, Personen und Orte erleichtern den schnellen Zugriff, die sorgfältig ausgewählten Bilder aus der Handschrift vermitteln eine lebendige Vorstellung von der Anlage eines solchen Regelbuches.
Die vorliegende Untersuchung zum Berner Codex A 53 darf aus diesem Grund als Meilenstein in der Erforschung der dominikanischen Observanz in der Provinz Teutonia gelten. Sie lässt das oftmals als erbaulich eingeschätzte schriftstellerische Werk von Johannes Meyer in einem neuen Licht erscheinen und legt zugleich die rationalen, modernen Aspekte der spätmittelalterlichen Observanzbewegungen frei.
Martina Wehrli-Johns