Mark Jones: Am Anfang war Gewalt. Die deutsche Revolution 1918/19 und der Beginn der Weimarer Republik, Berlin / München: Propyläen 2017, 432 S., ISBN 978-3-5490-7487-9, EUR 26,00
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Das Buch von Mark Jones ist thesenstark, eine faszinierende Lektüre auch für Leser, die sich einbilden, über die Revolution von 1918/19 gut informiert zu sein. Es hat das Zeug dazu, zu einem Standardwerk der historischen Forschung zur Weimarer Republik insgesamt zu werden. Präziser als der deutsche umschreibt der englische Titel das Substrat der Dissertation: "Founding Weimar" (Untertitel: "Violence and the German Revolution of 1918-1919"). Jones zentrale These nämlich lautet: "Die wirklichen Gründungspfeiler der Republik waren Gewalt und negative Mythen über die im Magma der Revolution rumorenden Gefahren." Es habe sich im Rückblick als fatal erwiesen, "dass die Weimarer Staatsgründung in einem Augenblick intensiver Gewalterfahrung erfolgte". Ein "Respekt gebietender Gründungsmythos, gespeist von einer Reihe positiver Errungenschaften, konnte unter diesen Umständen nicht entstehen". Das zentrale Anliegen von Jones ist es, die "Abfolge von Tabubrüchen", die die Politik der regierenden Sozialdemokraten durchlief, zu rekonstruieren, "die Spirale der Gewalttaten", die sich zwischen November 1918 und April 1919 "intensivierte und beschleunigte", und deren Folgen. Er tut dies, bis in kleinste Details - und sehr anschaulich, in weiten Passagen geradezu fesselnd.
Überdies ist es vorzüglich konzipiert. Jedes der insgesamt 15 Kapitel kann zudem für sich gelesen werden. Die meisten beginnen mit einer Episode, die Schlaglichter auf die Ängste und Erwartungen der Zeitgenossen wirft. Sie dient Jones als Sonde in die Tiefenstrukturen der Revolution. Die Kapitel sind chronologisch geordnet und konzentrieren sich auf Kernerereignisse der Revolution, angefangen im Frühherbst 1918 mit einer Obersten Heeresleitung, die feststellen musste, dass der Krieg verloren war. Mit Blick auf die Anfangsphase formuliert Jones auch eine erste These: "Was Historiker des 'Zeitalters der Extreme' gerne vergessen, ist, dass die Revolution in Kiel ohne eine einzige Gräueltat als Begleitmusik einer neuen Ära auskam." Eine wichtige Zäsur für Jones' Darstellung markierte der 6. Dezember 1918, an dem es zu einem detailliert geschilderten, von frühen Freikorps verübten "Blutbad" in der Berliner Innenstadt kam, dem der "Versuch eines Staatsstreichs" von rechts durch niedere Militärchargen und die gescheiterte Verhaftung des Vollzugsrates, als dem obersten legislativen Organ der Revolution, parallel liefen. Weiter getrieben wurde die Gewaltdynamik durch die Berliner "Blutweihnacht", in der die mit der Revolutionsbewegung sympathisierende Volksmarinedivision der Gardedivision eine Niederlage beibrachte, sowie durch die ebenfalls ausführlich geschilderten anschließenden Ereignisse, die durch den Rücktritt der USPD-Vertreter im Rat der Volksbeauftragten und deren Ersetzung durch MSPD-Vertreter ausgelöst wurden.
Ein weiteres Kapitel reserviert Jones dem Januaraufstand. Der wurde, wie Jones zu Recht betont, "eines der folgenschwersten Ereignisse der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts". Gerüchte und Legendenbildungen sorgten dafür, dass die Ereignisse zwischen dem 5. und 11. Januar 1919 lange Zeit fälschlicherweise zum "Spartakusaufstand" stilisiert wurden. Schauergeschichten vom Hörensagen begleiteten auch den Berliner Generalstreik Anfang März 1919 und den in drei Kapiteln dargestellten anschließenden Aufstand in der Hauptstadt sowie die in zwei Kapiteln thematisierte Münchner Räterepublik und deren Niederschlagung einen Monat später.
Dass Jones der fatalen Rolle herumschwirrender 'Geschichten vom Hörensagen' als zentralen Faktoren für den Verlauf der Revolution breiten Raum gibt, ist nur allzu plausibel. Offenkundig absurde, von Angstphantasien genährte Gerüchte über Gräueltaten der Aufständischen in Berlin und München führten dazu, dass breite bürgerliche Bevölkerungskreise "akzeptierten und tolerierten, was in Wirklichkeit eine Rolleninversion war: Regierungstruppen begingen grausame Gewalttaten, vor denen die Deutschen zu schützen ihr Auftrag war". Den eigentlichen "Gründungakt" der Weimarer Republik" stellen nach Jones die immer weiter ausufernden "Gewaltexzesse von Regierungstruppen und Freikorps" gegen "dürftig bewaffnete und amateurhaft geführte Aufständische" dar. Von deren massiver Gewalt "ging eine unerbittliche Botschaft aus: dass die neue Regierung gewillt war, ihre wirklichen oder vermeintlichen Gegner zu vernichten". Dahinter stand nicht nur Kalkül, sondern auch tiefsitzende Emotion, ein, so Jones, "abgrundtiefer Hass, der sich in der sozialdemokratischen Führung angestaut hatte". Das war fatal - und tragisch gerade auch für die SPD. 1919 bildete sich, von der Regierung sanktioniert, ein "Muster des gewalttätigen Straßenterrors" aus, das die erste deutsche Demokratie prägte und dem die Sozialdemokratie schließlich selbst zum Opfer fiel.
Die Monographie von Jones zeigt, wie produktiv der unbefangene Blick von außen sein kann. Statt mit parteipolitisch verengtem Fokus, gepaart mit dem Duktus staatstragender Verantwortlichkeit, der manche bundesdeutschen Publikationen zu 1918/19 in den letzten Jahrzehnten geprägt hat, blickt Jones - wissenschaftlich am University College Dublin sozialisiert - nüchtern und unvoreingenommen auf die Revolution. Er rekonstruiert empirisch detailliert und differenziert beide Phasen der Revolution - und zeigt so, wie unsinnig die unlängst in einer Rezension gestellte Frage ist, "was eigentlich die formative Phase der Revolution war". [1] Sowohl die 'erste' Phase (November und Dezember 1918), als auch die 'zweite' Phase (Januar bis April 1919) "formierten" die Weimarer Republik - allerdings auf sehr unterschiedlichen Ebenen.
Jones hat seine Darstellung überwiegend aus archivalischen Quellen sowie aus den Erinnerungen von Zeitgenossen erarbeitet. Zugute kommt der Monographie dennoch, dass sie auf Vorarbeiten einer jungen Generation deutscher Historiker fußen kann, die sich ebenfalls unvoreingenommen dem Geschehen insbesondere in Berlin 1919 zugewandt haben und den von Jones nur grob angedeuteten sozialökonomischen Hintergrund ausleuchten oder sich dem Diskurs über Rätetheorien widmen. [2] Möglich wurde die eindrucksvolle Geschichte zur Gewalt 1918/19, wie sie Jones vorgelegt hat, schließlich, weil jüngere Historikergenerationen für das Phänomen Gewalt überhaupt sensibilisiert wurden. Die immer breiteren Blutspuren des Nationalsozialismus nahmen Anfang 1919 im Proto-Faschismus der Freikorps ihren Ausgang, der zahlreiche NS-Protagonisten maßgeblich prägte. Jones' Arbeit ist gleichzeitig ein Plädoyer gegen eine historisierende Mystifizierung der Gewalt als Ausdruck "irgendwelcher undefinierter, unpersönlicher Kräfte" (Jones) und die essentialistische Konstruktion vorgeblicher "Gewalträume".
Kleinere Schwächen der Arbeit erklären sich daraus, dass sie chronologisch erst im Oktober 1918 einsetzt. So war Jones augenscheinlich überrascht, als ihn die Quellen die ganze Dimension der Gewaltexzesse der von der Leine gelassenen Militär- und Freikorpseinheiten erkennen ließen und er feststellen musste, dass es Gustav Noske und der Rat der Volksbeauftragten sowie die erste republikanische Reichsregierung unter SPD-Führung waren, die dieser Soldateska alle Freiräume für Gewaltexzesse ließen. Akteure, Ereignisse und die aus ihnen entstehende und immer weiter getriebene Gewaltspirale wirken bei Jones mitunter merkwürdig voraussetzungslos. Dies gilt insbesondere für die Rolle der Führung der (Mehrheits-)Sozialdemokratie. Es ist in der Tat nur schwer zu verstehen, dass die Führung einer Partei, die sich bis Sommer 1914 eine sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft auch durch einen revolutionären Umbruch programmatisch auf ihre Fahnen geschrieben hatte, nun das Bündnis mit einem hochgradig antidemokratischen Militär sowie den alten wilhelminischen Eliten suchte. Hier müsste man tiefer bohren. Eigentümlich blass bleiben auch die mit der Mehrheitssozialdemokratie konkurrierenden linken Akteursgruppen, namentlich die Revolutionären Obleute. [3]
Von einem Buch mit überschaubarem Umfang (343 Text-Seiten) kann man freilich nicht alles verlangen. Jones' Resümee aber überzeugt: Das "rigorose Eintreten für staatliche Gewalt unter sozialdemokratischer Herrschaft verschob die Paradigmen der deutschen politischen Kultur und hinterließ ein bitteres Vermächtnis". Die Berliner Märzereignisse und "die knappe Woche blutiger Gewalt, die das Ende der bayerischen Revolution markierte, stell[en] einen Wendepunkt in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts dar". Zustimmen muss man auch Jones' Forderung, die oft zur Vor- und Frühgeschichte der Weimarer Republik verkleinerte Revolution nicht pauschal als Erfolgsgeschichte zu verklären und zu feiern. Das wüste Treiben der Freikorps kann nicht unter 'Kosten' verbucht und damit bagatellisiert werden. Zudem waren Stigmatisierungen wie "jüdische Drahtzieher" bereits 1919 gang und gäbe, ebenso biologistische Metaphern wie die vom "kranken deutschen Volkskörper". "Die Auswüchse mörderischer Gewalt" im Zweiten Weltkrieg nahmen "ihren Anfang nicht 1933, 1939 oder 1941", sondern in den Gründungsumständen 'Weimars' - so die zentrale These. Obwohl Jones die "Gründungsmassaker" der Republik als "entscheidenden Schritt auf dem Weg zu den Schrecken des Dritten Reiches und des Zweiten Weltkriegs bezeichnet", redet er nicht einer eindimensionalen Zwangsläufigkeit das Wort, einer Unausweichlichkeit des Machtantritts der Hitlerbewegung. Die "Gewaltepisoden des Jahres 1919" und die so falsche wie "stereotype Alibi-Behauptung, die Kommunisten würden mit 'national gesinnten' Deutschen ebenso kurzen Prozess machen" wie diese selber mit den verfemten "Spartakisten", machten diesen allerdings wahrscheinlicher.
Anmerkungen:
[1] Alexander Gallus: Mit dem Revolver durch Berlin spazieren. Drohten wirklich russische Verhältnisse? Mark Jones legt eine Geschichte der deutschen Revolution von 1918/19 vor, in: FAZ vom 20.5.2017.
[2] Vgl. vor allem Dietmar Lange: Massenstreik und Schießbefehl. Generalstreik und Märzkämpfe in Berlin 1919, Berlin 2012; Axel Weipert: Die Zweite Revolution. Rätebewegung in Berlin 1919/20, Berlin 2015.
[3] Vgl. (an neueren Studien) besonders Ralf Hoffrogge: Richard Müller. Der Mann hinter der Novemberrevolution, Berlin 2008.
Rüdiger Hachtmann