Marta Polsakiewicz: Warschau im Ersten Weltkrieg. Deutsche Besatzungspolitik zwischen kultureller Autonomie und wirtschaftlicher Ausbeutung (= Studien zur Ostmitteleuropaforschung; 35), Marburg: Herder-Institut 2015, IX + 249 S., ISBN 978-3-87969-402-0, EUR 47,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Besatzung ist nie eine angenehme Erfahrung. Per definitionem weckt diese vorläufige Situation einen Zustand der Spannung und Ungewissheit zwischen den Besatzern und den Besetzten. Das war auch in Warschau während der deutschen Okkupation in den Jahren 1915-1918 der Fall. Am Vorabend des Weltkriegs war Warschau mit zirka 800 000 Einwohnern die größte polnische Stadt (und die drittgrößte im Russischen Reich). Auch wenn Warschau einen multikulturellen und multiethnischen Charakter trug - die Juden machten hier fast 40 Prozent der Bevölkerung aus -, fungierte diese Stadt doch als eines der wichtigsten Zentren des politischen und kulturellen Lebens der Polen.
Die hier zu besprechende Monografie ist die überarbeitete und ergänzte Version einer Dissertation, die an der Universität Viadriana angenommen wurde. Die Quellenbasis stellen offizielle Dokumente, Verordnungen, dienstliche Schriftwechsel, Sitzungsprotokolle, verschiedene persönliche Nachlässe (als wichtigster der von Hans von Beseler) dar, ergänzt durch Erinnerungen, Denkschriften und zeitgenössische Publizistik. Von zentraler Bedeutung sind dabei die Viertel- und Halbjahresberichte des Chefs der Zivilverwaltung beim Generalgouvernement Warschau, die für den Kaiser bestimmt waren. Das Material ist chronologisch in fünf Kapitel gegliedert. Die Erörterung beginnt mit einem Überblick über die Stadtgeschichte in den letzten Jahren russischer Herrschaft vor 1914 und endet mit dem Kapitel über die letzten Monate der deutschen Besatzung.
Warschau erfreute sich einer privilegierten Position innerhalb der deutsch besetzten polnischen Gebiete. Mitglieder der polnischen Elite wurden hier in größerem Maße als in anderen Städten in die städtische Verwaltung einbezogen, und die Bevölkerung wurde besser (obwohl längst nicht ausreichend) mit Lebensmitteln versorgt. Verschiedene administrative Maßnahmen und Investitionen in die städtische Infrastruktur (unter anderem der Wiederaufbau von Brücken, die Ausbesserung der Straßenbeläge, die Verbesserung des Gesundheitswesens, des öffentlichen Verkehrs oder des Postwesens, die Pflichtanmeldung von Fahrzeugen) sollten in erster Linie einer möglichst reibungslosen Verwaltung dienen und nicht unbedingt dem Wohlergehen der Bevölkerung. Letzteres war nur ein Nebeneffekt, den die Behörden propagandistisch zu nutzen wussten.
Vor allem versuchten die Besatzungsbehörden, alle Ressourcen, die für die Kriegsführung relevant waren, im Hinterland der Ostfront zu erhalten. Die kulturellen Zugeständnisse (die Polonisierung des Bildungs- und Gerichtswesens oder die Erlaubnis, Nationalfeiertage wie die Jahrestage des 3. Mai 1791, der Konstitution oder des November- und Januaraufstands feierlich zu begehen) sollten beschwichtigend auf die Stimmung der polnischen Eliten wirken und ihre positive Einstellung zu den Zentralmächten stärken. Dieser Aspekt ist in der Historiografie schon vor sehr langer Zeit herausgearbeitet worden.
Marta Polsakiewicz konzentriert sich in ihrem Buch - meines Erachtens - zu sehr auf die polnischen politischen Gruppierungen während des Krieges sowie auf die zunehmende und bis zum Kriegsende nicht gelöste Rivalität zwischen dem kaiserlichen Deutschland und Österreich-Ungarn um den Einfluss in den polnischen Territorien. Demgegenüber kommen bei ihr wichtige Veränderungen des großstädtischen Lebens viel zu kurz. Besonders in der zweiten Hälfte des Buches tritt Warschau zu Gunsten der Geschichte der politischen Umwandlungen in den Hintergrund der Betrachtung. Schade ist auch, dass die Autorin nicht die Weiterentwicklung Warschaus in den ersten Jahren der unabhängigen Zweiten Republik berücksichtigt hat. Das hätte einen Vergleich mit der Periode vor 1914 erlaubt und den eventuell dauerhaften Einfluss der deutschen Besatzung auf die Stadtentwicklung glaubhaft machen können, zumal Polsakiewicz selbst schreibt, dass der Ausbau von Warschaus Infrastruktur während der deutschen Besatzung erst nach dem Krieg zur vollen Geltung gekommen sei (111). Wenn dem so wäre, hätte diese These im Buch genauer geprüft werden müssen. Auch stimme ich nicht der Auffassung zu, dass das Stadtgebiet insbesondere deswegen westwärts erweitert wurde, um die dort befindlichen russischen Festungsanlagen stillzulegen (110). Warschau spielte als Festungsstadt schon vor 1914 keine Rolle mehr, weil die von der russischen Verwaltung Ende des 19. Jahrhunderts ausgebauten Befestigungen sich wegen der schnellen Entwicklung der Artillerie als veraltet erwiesen hatten. 1911 wurden darum viele dieser Befestigungsanlagen einfach gesprengt. Diesbezügliche Maßnahmen sollten darum eher als ein Element der symbolischen "Entrussifizierung" Warschaus angesehen werden.
Ansonsten wäre noch Folgendes anzumerken: Jan Kuchrzewski trat vom Posten des polnischen Ministerpräsidenten nicht im November 1917 (187), sondern am 28. Februar 1918 als Geste des Widerstandes gegen den Frieden von Brest-Litowsk zurück. Die Verfasserin idealisiert auch die Gestalt von Bohdan Hutten-Czapski (220), der von der polnischen öffentlichen Meinung schon vor dem Krieg allgemein als ein germanisierter Renegat angesehen wurde und deswegen gesellschaftlich isoliert war. Sein Einfluss auf die Besatzungsbehörden war daher auch nicht so groß, wie es Polsakiewicz behauptet. Im Literaturverzeichnis fehlen mir die Monografie von Damian Szymczak [1], eine Biografie Bogdan Hutten-Czapskis [2] sowie einige Erinnerungen, besonders diejenigen des Warschauer Erzbischofs und Mitglieds des Regentschaftsrates Alexander Kakowski und des Verlegers und Buchhändlers Jan Gebethner [3].
Abschließend möchte ich hervorheben, dass ich durch die Lektüre des Buches mehr über die Funktionsweisen der Metropole unter den Bedingungen des verlängerten, totalen Krieges und der zunehmenden Knappheit verschiedener lebensnotwendiger Artikel zu erfahren gehofft hatte. Danach spüre ich nach wie vor ein Verlangen.
Anmerkungen:
[1]: Damian Szymczak: Między Habsburgami a Hohenzollernami. Rywalizacja niemiecko-austro-węgierska w okresie I wojny światowej a odbudowa państwa polskiego [Zwischen den Habsburgern und Hohenzollern. Die deutsch-österreichisch-ungarische Rivalität während des Ersten Weltkriegs und die Errichtung des polnischen Staates], Kraków 2009.
[2] Katarzyna Grysińska-Jarmuła: Hrabia Bogdan Hutten-Czapski (1851-1937). Żołnierz, polityk i dyplomata [Graf Bogdan Hutten-Czapski (1851-1937). Soldat, Politiker und Diplomat], Toruń 2011.
[3] Jan Gebethner: Młodość wydawcy [Die Jugend eines Verlegers], Warszawa 1977.
Piotr Szlanta