Gherardo Ortalli / Oliver Jens Schmitt / Ermanno Orlando (a cura di): Il Commonwealth veneziano tra 1204 e la fine della Repubblica. Identità e peculiarità, Venedig: Istituto Veneto di Scienze, Lettere ed Arti 2015, VII + 526 S., ISBN 978-88-95996-52-3, EUR 38,00
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Der Band bietet die Beiträge einer Tagung, die 2013 in Venedig stattgefunden hat. Das ursprüngliche Thema, der östliche Balkan, sollte ein früheres Treffen über den westlichen Balkan vom September 2006 zu einer Art Gesamtbild abrunden. [1] Die Feststellung, dass im östlichen Balkan "Venice exercised no prerogative in terms of real statehood", hat aber die Herausgeber einen neuen, eher abstrakteren Fokus anvisieren lassen, nämlich die "Staatlichkeit Venedigs" (4). Daher die (eher fragwürdige) Übernahme des Begriffs "Commonwealth" direkt in den Tagungstitel und die Fragestellung nach "the nature and methods of Venetian statehood over long periods of time" (11).
Erläutert wird sie im ersten Beitrag von Gherardo Ortalli, einer Art Einführung, zusammen mit einem Gesamtüberblick zur Historiografie, der sogar bis Salimbene de Adam zurückgeht.
Innerhalb eines breiten chronologischen Rahmens, d.h. seit der Eroberung Konstantinopels in Folge des 4. Kreuzzuges (1204) bis zum Vertrag von Campoformido (1797) wechseln sich weitgespannte und zeitlich bzw. geografisch begrenzte Beiträge ab.
18 Verfasser diskutieren in fünf Sektionen über Terraferma und "Stato da mar", "Kolonialreich", Handelsbeziehungen und Regierungsformen im östlichen Mittelmeer und im Schwarzen Meer, über Venedigs Verhältnis sowohl zu Venetianern in Konstantinopel / Istanbul (Thierry Ganchou, Eric Dursteler), in Tana und in Trapezunt (Serghei Karpov), wie auch zu den nach Venedig Eingewanderten (Ermanno Orlando).
Gian Maria Varanini zieht nach den herkömmlichen Perspektiven Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur eine umfangreiche Forschungsbilanz über die Terraferma und ihre Beziehungen zu Venedig: das Binnenland habe insgesamt seine "profonda eterogeneità" (37) bewahrt, sein Bezug sei "preferenzialmente binario" - d.h. er laufe zwischen Venedig und den jeweils einzelnen Städten (42); die Elite aus der Terraferma habe einen "sostanziale municipalismo" vertreten und keine intensive Osmose mit dem Patriziat Venedigs erlebt (45).
Das Gegenteil wird durch Monique O'Connell hervorgehoben, die in ihrem Beitrag das volle Netzwerk der "family ties, social networks, informal associations and affiliations" abhandelt. "There are two untersecting circles of relationships that are relevant here: the implicit contract among the Venetian patriciate itself that formed the basis for the state as well as the relationships that connected that patriciate and territorial elites" (61); damit wird auch die "vertragsmässige Natur" des Verhältnisses zwischen Herrschaft und Beherrschten betont. Wie bei O'Connell versuchen auch die Beiträge über "die" Fiskalverfassung (Luciano Pezzolo), "die" Wehr und "die" Wehrkräfte (Piero Del Negro) oder über "rechtliche Instrumente" der Regierung (Alessandra Rizzi), ohne präzisen chronologischen Rahmen, sich ab und zu aber doch auf konkrete Beispiele stützend, eine Zusammenschau auf Strukturteile der "Staatlichkeit" Venedigs zu bieten, freilich verbunden mit dem Risiko, dass durch die Gedrängtheit der Chronologie die lebhafte, jahrhundertelange Dynamik nur unvollkommen vermittelt werden kann.
Zu Recht verurteilt Guillaume Saint-Guillain den Mythos eines "Kolonialprojektes", "d'une patiente mais implacable extension de la domination politique de la Sérénissime, conduite grâce à une politique rouée et en fonction d'une grande stratégie inscrite dans le très long terme [...] Cette prétendue stratégie n'est pour l'essentiel qu'une illusion rétrospective" (310).
Die ertragreicheren Beiträge sind eher chronologisch und topografisch begrenzten Themen gewidmet: die "Mikrohistorie" von Oliver Jens Schmitt untersucht Rhetorik und politische Kommunikation zwischen den Gemeinden Korčulas, den örtlichen Vertretern Venedigs und den Zentralbehörden im Quattrocento, mit ihrem intensiven Austausch (230). Auch Thierry Ganchou schildert Profil und teilweise abenteuerliche Erlebnisse zweier Kreter mit venezianischem Namen, Nicolaus Polo und Iohannes Torcello / Trocello, vor und nach der Eroberung Konstantinopels 1453. Iohannes Torcello schützte und begleitete den bekannten jungen Bāyezīd (Calixtus Ottomanus) nach Rom. Die zwei Kreter wurden nach Ganchou Opfer venezianischer Politik gegenüber Mehmed II. und den Osmanen.
Im Vergleich zu den klassischen Themen wie Terraferma, Stato da mar, Jurisdiktion und Politik erlauben neuere Ansätze zur Migrationsforschung, ältere und statischere Klischees über die "Staatlichkeit" Venedigs zu überwinden, wie Eric Dursteler und Ermanno Orlando in Bezug auf Demografie, Bürgerschaft, Empfangs- und Integrationsstrukturen in Venedig und Istanbul exemplifizieren.
Manche Verfasser, z.B. Benjamin Arbel, nehmen eine grundlegende Kritik ihrer Begrifflichkeit (Stato da mar, politica coloniale) vorweg; umso mehr verunsichert den Leser deshalb der unbekümmerte Gebrauch innerhalb des Bandes von "stato/'stato'/Stato/Stato veneto, impero veneto, statuale/'statuale'": Commonwealth hat angeblich immer noch nicht an Akzeptanz gewonnen! Der Herausgeber Gherardo Ortalli bemerkt programmatisch: "choosing the term 'commonwealth' betrays a degree of prudence, or some difficulty in using the stronger term 'state', to describe the experience of Venetian government, a preference for a term more dynamic, interactive and involving participation" (11). Dann aber stellt sich die Frage, warum die Sektionen des Bandes genau mit dem Begriff "Staat" operieren: Lo stato veneziano tra premesse medievali e derive tardo moderne; Lo stato in funzione. Strutture di comando e governo; Lo stato in funzione. Comunicazione, trattative e legittimazione; Lo stato debole. Fra mare e terra. Genauso fraglich bleibt die Vorliebe Gherardo Ortallis für eine englische Fassung seines Beitrags und die Übersetzung vom Englischen ins Italienische des Artikels von Eric Dursteler, aber nicht von Monique O'Connell und David Jacoby, deren englische Beiträge unübersetzt geblieben sind.
Jenseits dieser Bemerkungen präsentiert der Tagungsband aber diverse fruchtbare Ergebnisse und löst so das Versprechen ein, ein "momento di ricomposizione e di ripensamento storiografico" zu bieten (so Varanini, 13): dabei wird versucht, Teilstudien zugunsten des gesamten "Commonwealth" zu überwinden und eine historiografische Bilanz zu ziehen - das gilt für fast alle Beiträge. Das angestrebte Ziel, nämlich die vermeintliche, eher ominöse "Natur der venezianischen Staatlichkeit", zeichnet sich am besten bei den "riflessioni" eines der Herausgeber, Ermanno Orlando, ab (405): er spricht von "natura fluida, aperta e partecipata dello 'stato' lagunare" (411), von "natura contrattuale, pratica e dialogica dello stato veneziano" (418), und erfasst "la cifra più vera dello 'stato' veneziano": "un'entità aperta e flessibile, con ampi tassi di partecipazione e bilateralità, contraddistinta da un atteggiamento sempre molto pratico e utilitaristico, sebbene non esente da aritmie e da qualche (necessaria e fisiologica) incoerenza" (430).
Anmerkung:
[1] Der westliche Balkan, der Adriaraum und Venedig (13. bis 18. Jahrhundert) / Balcani occidentali, Adriatico e Venezia fra XIII e XVIII secolo, hgg. v. Gherardo Ortalli / Oliver Jens Schmitt, Wien 2009.
Daniela Bianca Rando