Oliver Bange: Sicherheit und Staat. Die Bündnis- und Militärpolitik der DDR im internationalen Kontext 1969 bis 1990 (= Militärgeschichte der DDR; Bd. 25), Berlin: Ch. Links Verlag 2017, XVI + 614 S., 16 Farb-, 23 s/w-Abb., ISBN 978-3-86153-934-6, EUR 50,00
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Das "'Wunder' des Herbsts 1989 konnte stattfinden", so Oliver Bange in der Schlussbemerkung zu dem vorliegenden Buch, "weil die Sicherheit der DDR durch die internationalen Veränderungen der Siebziger- und Achtzigerjahre bereits weitgehend zerbröselt und zerrieben worden war" (539). Dieser Prozess, der in eine Auflösung des Staats selbst mündete, steht im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung. Dabei wird ein breiter Sicherheitsbegriff zugrunde gelegt und deren innere Dimension genauso berücksichtigt wie die deutsch-deutsche und die osteuropäische. Das methodische Vorgehen wird als "multiarchivalisch, multilingual, multiperspektivisch, interdependent/integrativ, assoziativ und kooperativ" (12) bezeichnet. Auch der Forschungsbericht in der Einleitung ist etwas eigenwillig, da er vor allem die Konferenzen aufzählt, die den Verfasser inspiriert haben und auf denen er bereits vorgetragen hat. Festzuhalten bleibt allerdings eine sehr breite archivalische Fundierung der Studie, wenngleich bisweilen nicht aus den Akten, sondern aus bereits vorliegenden Editionen hätte zitiert werden müssen.
Zunächst beleuchtet Bange die persönliche Dimension der Sicherheit der DDR und nimmt hier vor allem Erich Honecker und Helmut Schmidt ins Visier. Beide hätten wegen ihres gemeinsamen Schicksals an der Frontlinie der beiden Bündnisse zu Beginn der 1980er Jahre "eine zwischenmenschliche 'Verantwortungsgemeinschaft'" gebildet (542). Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang der Hinweis darauf, dass die meisten kommunistischen Parteiführer die deutsch-deutsche Annäherung zu Beginn des Entspannungsprozesses begrüßten, weil sie damit die Hoffnung auf eine Stabilisierung der militärischen Situation verbanden. Im Verlauf der weiteren Entwicklung verfolgten sie die persönliche Annäherung der beiden Politiker aber zunehmend kritisch, da nun der DDR die Beziehungen zur Bundesrepublik offensichtlich wichtiger wurden als zu den Staaten der Warschauer Vertragsorganisation (WVO). Für die Sowjetunion ist letzteres schon länger bekannt.
Die atomare Dimension der Sicherheit betrachtet Bange weitgehend aus der Perspektive des Ostens. Unabhängig von der Tatsache, dass die Sowjetunion bei der Entwicklung und Stationierung von Mittelstreckenwaffen die Nase vorn hatte - die Sowjetunion stationierte die SS 20 ab 1976 -, sahen Politiker und Militärexperten der WVO die damals in der Entwicklung befindlichen westlichen Pendants dazu - Pershing II und Cruise Missiles - als Teilaspekt eines umfassenden Innovationsschubs auf Seiten der NATO, auch und gerade im konventionellen Bereich. Dabei seien die Pershing-Raketen als strategische Waffe zur Ausübung von politischem Druck, die Cruise Missiles hingegen als taktische Waffe zur Ausschaltung der zweiten Welle der sowjetischen Panzerdivisionen betrachtet worden. Die östliche Perzeption der sowohl konventionellen als auch nuklearen "Revolution in Military Affairs" in die Analyse einzubeziehen, ist zweifellos weiterführend und lässt die Sorgen der ostdeutschen Führung angesichts der Raketenstationierung in der Bundesrepublik, auf die Moskau mit einer weiteren Stationierung von Trägersystemen in der DDR antwortete, nachvollziehbar erscheinen. Honecker distanzierte sich bekanntlich öffentlich von der angekündigten sowjetischen Gegenmaßnahme und ließ es nicht zu einer Beeinträchtigung der deutsch-deutschen Beziehungen kommen.
Letztere stehen im Mittelpunkt des Kapitels zur inneren Dimension der Sicherheit. Da Bange hier "nach den Wechselbeziehungen zwischen multilateraler Entspannung, Medien, Menschenrechten und Militärpolitik" fragt (241), wird dabei leider nicht die wirtschaftliche Abhängigkeit der DDR von der Bundesrepublik thematisiert, die letztlich entscheidend dafür war, dass Ost-Berlin eine Abkühlung des Verhältnisses zu Bonn mit allen Mitteln zu verhindern suchte. Bange geht es vielmehr um die Auswirkungen des KSZE-Prozesses auf die DDR-Gesellschaft, die für ihn vor allem in einem zunehmenden Austausch zwischen Ost und West bestanden. Dabei wird leider nicht ganz klar, dass dieser Prozess vor allem durch Breschnews bei der KSZE-Folgekonferenz von Madrid proklamiertes Ziel, eine Abrüstungskonferenz einzuberufen, den westlichen Staaten einen Hebel in die Hand gab, um auf ein größeres Entgegenkommen der östlichen Staaten in Korb III zu bestehen, wodurch die DDR in die Defensive gedrängt wurde. Außerdem spricht Bange zwar von einem "Madrid-Effekt" (280), erwähnt aber nicht, dass die wichtigste Auswirkung dieses Treffens in der Entstehung einer regelrechten Ausreisebewegung in der DDR bestand. Zuzustimmen ist ihm jedoch, wenn er konstatiert, dass die auch infolge des KSZE-Prozesses in Gang gekommene gesellschaftliche Bewegung die Führung in die Defensive trieb. Das nahm letztlich Dimensionen an, die auch die Staatssicherheit überforderten.
Am innovativsten ist der Abschnitt zur militärisch-operativen Dimension der Sicherheit. Anhand militärischer Übungen und Manöver der WVO-Streitkräfte analysiert der Autor die grundlegenden Veränderungen im Kriegsbild des östlichen Bündnisses. Während man in den 1960er und 1970er Jahren davon ausging, dass auf die gegnerische Offensive ein eigener Angriff folgen werde, um das Schlachtfeld nach Westdeutschland und Westeuropa zu verlagern, änderte sich dies grundlegend an der Wende von den 1970er zu den 1980er Jahren. Der Innovationssprung der nuklearen und konventionellen Militärtechnologie des Westens stellte dieses Kriegsbild in Frage, so dass die Zuversicht auf einen schnellen Sieg im Westen schwand. Beginnend mit dem Großmanöver "Waffenbrüderschaft 80" wurden erstmals zentrale Elemente eines neuen Kriegsbilds durchgespielt: die Wirkung neuer Waffensysteme in Ost und West, neue operative Grundsätze und die Annahme einer vollständigen Besetzung der DDR als Resultat eines erfolgreichen NATO-Angriffs. Der Gegenangriff und die darauf folgenden Kampfhandlungen fanden nun nicht mehr in Westdeutschland, sondern in der DDR und in Westpolen statt. Der ursprüngliche, noch nach traditionellem Muster angelegte Manöverplan war auf sowjetischen Einspruch hin geändert und der Fokus auf den Übergang zum Angriff aus der Verteidigung gelegt worden. Auch den detailliert vorgestellten Kommandostabsübungen der folgenden Jahre lag dieses Kriegsbild zugrunde, das für die DDR Verluste von 300 000 Toten und 700 000 Verletzten einkalkulierte. Während im Zuge der von Gorbatschow eingeleiteten Abrüstungspolitik, die ihren Schwerpunkt bei den nuklearen Mittelstreckenwaffen hatte, 1987 eine neue Militärdoktrin der WVO verkündet wurde, die sich auf die Verteidigung und eine dafür "hinlängliche" Bewaffnung konzentrierte, kann Bange nachweisen, dass der "defensive turn" bereits 1984 von der militärischen Führung vorangetrieben wurde, als Generalstabschef Sergej Achromejew Ost-Berlin aufforderte, "den Fragen der Organisation der Verteidigungsoperation auch die gebührende Aufmerksamkeit zu widmen" (415). Jetzt setzten die DDR-Militärs auf eine möglichst grenznahe Vorwärtsverteidigung, womit sie allerdings bei Gorbatschow und dessen Generalen nicht durchkamen, die eine tiefgestaffelte Verteidigung in der DDR und regionale Gegenangriffe bis zur deutsch-deutschen Grenze anstrebten.
Ein letztes Kapitel zu "Erbe und Erblasten des Ost-West-Konflikts" (465) enthält durchaus interessante Ausführungen zum Abzug der sowjetischen Streitkräfte aus Deutschland nach 1990 sowie zur zeitweiligen Nutzung der durch die Wiedervereinigung in den Besitz der Bundeswehr gekommenen sowjetischen Jagdflugzeuge vom Typ MiG-29. Und man kann auch argumentieren, dass es sich um für Deutschland relevante Nachwirkungen des Ost-West-Konflikts handelte. Aber mit dem eigentlichen Thema des Buchs, der Sicherheit der DDR, hat dies eigentlich nichts mehr zu tun.
Dass die DDR im letzten Jahrzehnt ihrer Existenz wirtschaftlich, innenpolitisch und deutschlandpolitisch in die Defensive geriet, war bisher nicht unbekannt - hier bestätigt Bange unser Bild und erweitert es um einige weitere Aspekte. Grundlegend neu sind allerdings seine Ausführungen zum Kriegsbild der WVO und der ostdeutschen Führung. Da Honecker einen solchen Krieg, der die DDR in ein konventionelles und atomares Schlachtfeld verwandelt hätte, auf jeden Fall vermeiden wollte, war sein Interesse an Abrüstung und Entspannung keineswegs nur vorgeschoben. Die Erhaltung des Friedens hatte für ihn daher - neben der Erhaltung der SED-Herrschaft - höchste Priorität.
Hermann Wentker