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Lutz Fiedler: Matzpen. Eine andere israelische Geschichte (= Schriften des Dubnow-Instituts; Bd. 25), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017, 408 S., 15 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-37041-4, EUR 70,00
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Rezension von:
Fabian Weber
München
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Fabian Weber: Rezension von: Lutz Fiedler: Matzpen. Eine andere israelische Geschichte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 3 [15.03.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/03/30569.html


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Lutz Fiedler: Matzpen

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Die vorliegende Studie stellt ohne Frage eine besondere und überaus originelle Form der Geschichtsschreibung dar. Lutz Fiedler erzählt die Geschichte der Neuen Linken in Israel, die sich als Israelische Sozialistische Organisation um die Zeitschrift Matzpen (dt. Kompass) gruppierte. Untersucht wird nicht allein die zahlenmäßig kleine Gruppe linker Aktivisten, sondern vielmehr die ganze Geschichte Israels und des arabisch-jüdischen Konflikts aus der Perspektive seiner Dissidenten. Darüber hinaus zieht der Autor die Verbindungslinien zur Neuen Linken in Europa. Durch einen ideen- und erinnerungsgeschichtlichen Ansatz kommen ihre Visionen ausführlich zu Wort und offenbaren einen alternativen Blick auf die israelische Geschichte. Die unmittelbar politische Perspektive entschärft Fiedler, indem er sie "als Ausdruck von Erfahrungs- und Gedächtnisräumen entziffert" (31).

Matzpen, die von 1962 bis 1983 erschien, wurde im Israel der später 1960er und 1970er Jahre zur größten inneren Herausforderung, zur "Chiffre von Dissidenz" (17) in doppelter Hinsicht: die Abspaltung einer kleinen Gruppe junger Kommunisten von der Mutterpartei Maki markierte den Anfang einer neuen Linken, die sich gegen die ideologische Hegemonie eines moskautreuen Parteikommunismus wandte. Darüber hinaus scherte Matzpen mit der im Anschluss an den Sechstagekrieg 1967 offensiv in die Öffentlichkeit getragenen Palästinafrage und der Forderung einer "Entzionisierung" Israels nicht allein aus einem Partei-, sondern aus dem Konsens der gesamten Gesellschaft aus.

In die Konfrontation der Neuen Linken mit Staat und Gesellschaft führt Fiedler symbolträchtig ein mit dem Israel-Besuch Daniel Cohn-Bendits 1970. Begleitet von großen Erwartungen und medialer Aufmerksamkeit sollten in der israelischen Öffentlichkeit schnell Enttäuschung und Empörung folgen, als der "rote Danny" die Position Matzpens vertrat und die Palästinafrage als Prüfstein israelischer Legitimität formulierte. Die Diskussion Cohn-Bendits auf dem Dach des Kibbuz Gan Shmuel illustriert das Konfliktfeld, in dem sich "zwei unterschiedliche Erfahrungsräume und Erfahrungszeiten jüdischer Geschichte gegenüber" (14) standen. Suchte die Neue Linke ungebrochen an die politischen Utopien der Zwanziger- und Dreißigerjahre anzuknüpfen war dem Linkszionismus neben dem sozialistischen Selbstverständnis gleichwohl die Erfahrung jüdischer Verfolgung eingeschrieben.

Das erste Kapitel "Kommunistische Dissidenten" (35-80) rekapituliert die Entstehung der Gruppe. Der berühmte Streik der Seeleute in Haifa 1951 hatte bei einigen die Ansicht befördert, dass KP und Histadrut ihren revolutionären Charakter eingebüßt hatten; das fiel indes mit der Erfahrung des Versagens des Parteikommunismus auf der ganzen Welt zusammen. Fehlende Möglichkeiten zur Mitsprache und politischen Partizipation in der israelischen KP wie der staatstragenden Gewerkschaft und Kritik an Ben Gurions etatistischem Führungsstil führten letztlich zur Abwendung vom Parteikommunismus.

Das zweite Kapitel "Linke Kolonisatoren" (81-136) vollzieht die veränderte Wahrnehmung der Palästinafrage nach, die im Zuge der Dekolonisierung Algeriens einsetzte. Im Frühjahr 1962 war der Algerienkrieg zu Ende gegangen und hatte die Flucht von einer Million Algerienfranzosen zur Folge. Matzpens erste Ausgabe aus demselben Jahr reflektierte diese Ereignisse, die den arabisch-israelischen Konflikt gleichfalls in eine Frage von Ansässigen und Fremden verwandelt hatte. Israel war keine Kolonie und hatte damit auch keine Metropole im Rücken, in die man sich hätte zurückziehen können. Vor dieser Erfahrung kritisierte Matzpen den sozialistischen Zionismus, der die Nationalisierung des Bodens durchgeführt und dabei jüdisches und arabisches Proletariat voneinander entfremdet hatte. Die Aufarbeitung der eigenen Staatsgründung sollte die Voraussetzung gegenseitiger Anerkennung zu schaffen. Die Vision Matzpens einer sozialistischen Union des Nahen Ostens, die mit Nathan Weinstock im Paris von 1967 ein Sprachrohr fand, erwies sich angesichts zeitgleich erfolgter Vernichtungsdrohungen arabischer Staaten als "ebenso schillernd wie realitätsfern" (134).

Das dritte Kapitel (137-200) handelt von den kulturellen Debatten Israels, in denen säkulare und sakrale Selbstverständnisse aufeinandertrafen. Bestrebungen etwa der sogenannten Kanaaniter oder der Semitischen Aktion suchten die Wiedergeburt einer hebräischen Nation in die Dynamik der arabischen Unabhängigkeitsbewegungen zu integrieren.

Das vierte Kapitel (201-262) kreist um eine zentrale Forderung von Matzpen "Nieder mit der Besatzung". Neben den Konflikten mit der israelischen Mehrheitsgesellschaft schildert der Autor auch Ansätze einer arabisch-israelischen Verständigung. 1975 hatte mit Moshé Machover ein Mitglied von Matzpen erstmals ein Israeli einen führenden Vertreter der PLO interviewt, Said Hammami, der als Stimme des Wandels den möglich scheinenden Frieden verkörperte. Die Tagespresse hatte über das Ereignis berichtet, als sei Machover ein anerkannter Vertreter israelischer Interessen. Hammami fiel 1978 einem palästinensischen Terroranschlag zum Opfer. Fiedler nimmt auch die Kritik Matzpens an den politischen Organisationen der Palästinenser auf. Gegen den plumpen Nationalismus der Fatah sollte das Bleiberecht der israelischen Juden verteidigt werden, trotz Kritik an der illegitimen Aneignung von Land.

Das fünfte Kapitel (263-300) handelt über Khamsin, die als verlängerter Arm Matzpens in Europa eine bedeutende Diskussionsplattform für israelische und arabische Intellektuelle und damit einen neuen Nahen Osten en miniature darstellte. Fiedler bezieht hier die Dissidentenposition arabischer Linker mit ein und beschreibt ihre Kritik an den versteinerten Zuständen in der arabischen Welt als Pendant zu Matzpens Perspektive auf Israel.

Das letzte Kapitel (373-400) schließlich reflektiert auf den Holocaust, besser gesagt die "Umgehung der Holocausterfahrung" durch einen sozialistischen Fortschrittsoptimismus, einer "Tradition, die ihren einstigen Trägern bereits auf grausamste Weise widerlegt worden war." (333) Die Verschüttung der Holocausterfahrung durch die Palästinafrage, die es mittels eines sozialistischen Internationalismus zu lösen gelte, begreift der Autor als "Ausdruck unterschiedlicher Zeiten und Räume jüdischer Geschichtserfahrung, die anlässlich des Sechstagekriegs kollidierten" (305). Die israelische Angst vor Auslöschung angesichts der arabischen Drohungen im Vorfeld des Sechstagekrieges reflektierte Matzpen nicht als "Einbruch eines Holocaustgedächtnisses", sondern bagatellisierte die reale Bedrohung allein als "Fortschreibung zionistischer Katastrophenrhetorik" (332). Matzpen hatte sich dem kollektiven Bewusstsein der Juden nach Ausschwitz verschlossen und seine kulturelle Zugehörigkeit zu einer neuen bzw. "neu erfundenen hebräisch-israelischen Nation" (332) deklariert, als Voraussetzung radikaler Kritik am jüdischen Staat. Im Milieu der Neuen Linken in Deutschland fanden sich die Ausläufer und Adepten von Matzpen erneut auf ihre jüdische Herkunft zurückgeworfen. Gegensätzliche Geschichtserfahrungen zog oftmals eine Trennungslinie zwischen jüdischen und nichtjüdischen Linken, da letzteren die politische Konstellation des Nahen Ostens nicht selten als Projektion der deutschen Vergangenheit diente und letztlich linken Antisemitismus gedeihen ließ.

Der Autor bettet die Geschichte Matzpens in die Geschichte des Nahen Ostens, der arabisch-israelischen Konflikte ein und zeigt ihre Adaption in der Neuen Linken Europas. Es entsteht eine spannende Geschichte Israels durch das Brennglas einer kleinen, radikalen Gruppe. Allerdings umgeht Fiedler die Frage, wie weit Matzpen selbst Einfluss auf die Verhältnisse zu nehmen vermochte. Es hätte deutlicher herausgestellt werden können, nicht wie sich Geschichte durch Matzpen hindurch lesen lässt, sondern welche konkrete Bedeutung Matzpen im Geflecht der politischen Debatten zukommt. Auch darf gefragt werden, ob manche Abschnitte, nicht doch zu weit von den eigentlichen Protagonisten wegführen. So bereitet vor allem das dritte Kapitel kulturelle Debatten auf, die als Kontext zu weit ausgreifen. Das schmälert freilich nicht die Leistung des Autors, eine linke Geschichte Israels geschrieben zu haben, die man mit großem Erkenntnisgewinn liest.

Fabian Weber