William Taubman: Gorbachev. His Life and Times, New York: W.W. Norton & Company 2017, XXVIII + 852 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-0-393-64701-3, USD 39,95
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Kaum jemand hat die Welt am Ende des 20. Jahrhunderts so sehr verändert wie Michail Gorbatschow. Zwar liegen über die zweite Hälfte der 1980er und 1990er Jahre zahlreiche Publikationen vor, die diese Schlüsselphase der europäischen und außereuropäischen Transformationsgeschichte beleuchten; eine wissenschaftliche Biographie des wohl zentralen Akteurs dieser Zeit gab es bisher jedoch nicht. In diese Lücke stößt William Taubman, der vor mehreren Jahren mit der maßgebenden Biographie über Nikita Chruschtschow hervorgetreten ist. Das Buch beruht auf einer umfassenden Auswertung aller Taubman zugänglichen Quellen, unter denen die Zeugnisse von Gorbatschows Beratern, insbesondere die Tagebuchnotizen seines engen Vertrauten Anatolij Tschernjajew, eine zentrale Rolle spielen. Auch die Literatur hat er, sofern sie auf Englisch oder Russisch publiziert wurde, berücksichtigt. [1]
"Gorbachev is hard to understand", so gab der ehemalige sowjetische Staats- und Parteichef seinem Biographen 2005 zu verstehen (1). Dennoch macht sich Taubman genau dies mit seiner flüssig geschriebenen, gut lesbaren Lebensgeschichte zur Aufgabe, wobei er trotz eindeutiger Sympathie für seinen Helden stets die nötige Distanz wahrt. Entstanden ist eine differenzierte biographische Darstellung, die Gorbatschow als historischen Akteur mit seinen Ideen, Handlungsspielräumen und Handlungszwängen lebendig werden lässt.
Geprägt wurde Gorbatschow durch eine entbehrungsreiche Jugend in einem bäuerlichen Elternhaus, aber auch durch Schule und schließlich ein Jura-Studium an der Universität Moskau in den frühen 1950er Jahren. Dort war er, wie sein Studienkollege Zdeněk Mlynář, zunächst ein überzeugter Kommunist, den allerdings, vor allem nach Stalins Tod, zunehmende Zweifel befielen. In der Geheimrede Chruschtschows von 1956 sah er einen mutigen Schritt und wurde dann "a 'man of the sixties,' infected by the atmosphere of Moscow University and the Khrushchev thaw", der jedoch weiterhin den Kommunismus als Weltanschauung nicht in Frage stellte (128). Da er nach der Universität eine Funktionärskarriere in seiner Heimatstadt Stawropol einschlug - zunächst bei der Jugendorganisation Komsomol und dann in der KPdSU - übte er freilich nach außen Zurückhaltung, insbesondere als nach der Absetzung Chruschtschows 1964 das Pendel zurückschlug. Denn er war gleichzeitig ehrgeizig und aufstiegsorientiert, so dass er 1970 zum Ersten Sekretär der KPdSU im nordkaukasischen Bezirk Stawropol avancierte. Er unterschied sich von den anderen Funktionären dadurch, dass er seine Stellung nicht ausnutzte, wenig Alkohol trank und seiner Frau Raissa, die er während des Studiums geheiratet hatte, treu blieb. Da diese in seinem Leben eine zentrale Rolle spielte und in allen Dingen seine wichtigste Beraterin wurde, wird auch sie ausführlich von Taubman gewürdigt. Über Intelligenz, Ehrgeiz, Fleiß und Glauben an den Kommunismus hinaus bedurfte er allerdings mächtiger Förderer in Moskau. Kontakte knüpfte er vor allem zu einer Reihe führender Funktionäre, die im Nordkaukasus zur Kur gingen. Das galt vor allem für KGB-Chef Jurij Andropow, mit dem er seit den 1970er Jahren ein freundschaftliches Verhältnis pflegte und mit dem er darin übereinstimmte, dass Wirtschaftsreformen dringend erforderlich seien. Diesen Verbindungen war es zu verdanken, dass er 1978 als Sekretär für Landwirtschaft in die Parteizentrale nach Moskau berufen wurde.
Seine Moskauer Karriere nahm mit dem Wechsel von Breschnew zu Andropow an Fahrt auf, als Gorbatschow auf Anraten seines Förderers sein Portfolio erweiterte und zahlreiche spätere Reformer um sich versammelte, unter anderem Alexander Jakowlew. Der Machtwechsel von Tschernenko zu Gorbatschow verlief aufgrund einer vorangegangenen Absprache mit Außenminister Andreij Gromyko relativ glatt. Unmittelbar nach dem Amtsantritt 1985, so Taubman, war Gorbatschow zwar gewillt, das Land zu verändern; seine Vorstellungen einer Erneuerung des Sozialismus waren allerdings noch äußerst vage.
Daher fielen zunächst Änderungen im persönlichen Stil positiv auf - der neue Generalsekretär redete frei, ließ Diskussionen im Politbüro zu, suchte das Gespräch mit den Bürgern und lehnte den Personenkult ab. Außer einem personellen Revirement in der Führung und der Betonung von Glasnost in Medien und Kunst war es die Formel "Beschleunigung", unter der vor allem die Wirtschaft durch Nutzung des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts zu einer Leistungssteigerung bewegt werden sollte. Erst die Katastrophe von Tschernobyl vom April 1986 wurde Taubman zufolge zu einem Wendepunkt für Gorbatschow und das Regime; von nun an wurden seine kritischen Äußerungen schärfer und seine Reformvorstellungen radikaler. Das zeigte sich vor allem auf dem Januarplenum von 1987, auf dem er erstmals politische Reformen ins Auge fasste, die aber, was Taubman übersieht, sich nicht alle in der Beschlussfassung wiederfanden. Da diese Radikalisierung sowie die durch Glasnost um sich greifende kritische Berichterstattung die Konservativen unter der Führung Jegor Ligatschows herausforderte, entspann sich um den von dieser Seite genutzten Leserbrief einer bekennenden Stalinistin, Nina Andrejewa, im März 1988 eine öffentliche Kontroverse. Die Reformer unter Führung Gorbatschows setzten sich nicht nur durch, sondern die Affäre radikalisierte deren Vorstellungen weiter, so dass der Generalsekretär im Juli die 19. Unionsparteikonferenz einberief, um die Macht der KPdSU zugunsten der Sowjets auf allen Ebenen zu begrenzen und die Demokratisierung von Staat und Partei einleitete. Damit war er weitgehend erfolgreich und errang einen Sieg, der Taubman zufolge allerdings höchst ambivalent war: Denn "by gutting the party's ability to run the country, he was undermining his own power" (373). Die damaligen Auseinandersetzungen an der KPdSU-Spitze zwischen Gorbatschow und Ligatschow werden zwar thematisiert, in ihrer Bedeutung allerdings etwas heruntergespielt; sehr viel mehr Raum nimmt die beginnende Rivalität mit dem Feuerkopf Boris Jelzin ein, der vor persönlicher Kritik an Gorbatschow nicht zurückscheute. Dieser entwickelte daraufhin eine persönliche Antipathie gegen Jelzin, den er jedoch lange unterschätzte. Taubman beschränkt sich allerdings nicht auf den in diesen Jahren erfolgreichen politischen Reformer Gorbatschow, sondern verweist auch auf die Halbherzigkeit der wirtschaftlichen Reformversuche und dessen mangelnde Kompetenz auf diesem Gebiet. Ähnlich hilflos erwies er sich angesichts der 1988 aufflammenden Nationalitätenkonflikte - ein Thema, das Gorbatschow völlig unterschätzte, wofür Taubman "his special mix of idealism and optimism" verantwortlich machte, da sein Glaube an einen reformierten Sozialismus ihn zu der Annahme verleitete, "it could satisfy Russians and non-Russians alike" (366).
Auch in der Außenpolitik verfolgte Gorbatschow eigenen Bekundungen zufolge "no detailed plan of action" (255). Gleichwohl wäre es sinnvoll gewesen, die ersten außenpolitischen Schritte auf neue politische Ideen zu analysieren und dem Ursprung und Gebrauch von Formeln wie dem "gemeinsamen Haus Europa" etwas systematischer nachzugehen. Deutlich wird allerdings, dass er den osteuropäischen Staaten kaum Aufmerksamkeit widmete und es Taubman zufolge versäumte, die dortigen Reformer zu unterstützen. Vielmehr habe er darauf gesetzt, dass die Satelliten aus Einsicht dem sowjetischen Beispiel folgen würden. Als er 1987/88 immer öfter statt der Breschnew-Doktrin den Grundsatz der Wahlfreiheit verkündete, glaubte er nicht daran, dass dies zu einem Auseinanderbrechen des östlichen Bündnisses führen werde, da seiner Meinung nach der Sozialismus in den einzelnen Staaten tief verwurzelt sei. Als sich diese trotzdem 1989 für Demokratie und Marktwirtschaft entschieden, ließ er dies aufgrund seiner Ablehnung von Gewalt als Mittel der Politik geschehen. Für die Vernachlässigung der Osteuropäer war laut Taubman auch die Antipathie Gorbatschows gegenüber den meisten der dortigen Führer verantwortlich; viel lieber sprach er mit Politikern der westlichen Staaten. Im Mittelpunkt standen dabei die USA unter Ronald Reagan, mit dem Gorbatschow den Abrüstungsdialog aufnahm, den er mit dem INF-Vertrag von 1987 zu einem ersten Erfolg führte. Sehr ausführlich schildert Taubman die Gipfeltreffen von Genf (1985), Reykajvik (1986), Washington (1987), Moskau (1988) und New York (1988) - etwas zu kurz kommt dabei die Analyse der Hintergründe für Gorbatschows Abrüstungskurs. Zuzustimmen ist ihm allerdings, wenn er Gorbatschows Grundgedanken, "that the Soviet Union's security depended on ist adversaries' also feeling secure", als revolutionären Bruch in der sowjetischen Sicherheitspolitik bezeichnet (391). Wenngleich er auch die Treffen mit den westeuropäischen Staatslenkern thematisiert, so wird doch deutlich, dass er den Schwerpunkt auf die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen legt. Die im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung Deutschlands gemachten Zugeständnisse Gorbatschows erklärt Taubman damit, dass dieser in zunehmendem Maße wie ein westlicher Politiker dachte und sich nun dem Ziel verpflichtet fühlte, gemeinsam mit den USA und Deutschland eine neue Weltordnung zu errichten.
Innenpolitisch waren die halbfreie Wahl und das Zusammentreten des Kongresses der Volksdeputierten im Frühjahr 1989 Höhe- und Wendepunkt der Perestroika. Aber Gorbatschow "was replacing the old political 'game', at which he excelled, with a new one that he never really mastered." (428) Mit dem nun ausbrechenden Pluralismus und zunehmenden öffentlichen Diskussionen konnte er nicht mehr umgehen. Zweierlei war für den einsetzenden Machtverfall Gorbatschows verantwortlich: Die ungelösten Wirtschaftsprobleme und Nationalitätenkonflikte nahmen überhand - wobei, was Taubman nicht schreibt, die per Fernsehen übertragenen Debatten des Volksdeputiertenkongresses eine katalytische Wirkung hatten -, und mit der Entmachtung der KPdSU verlor er seine alte Machtbasis, ohne eine neue etablieren zu können. Da nützte es wenig, dass er von dem Kongress im März 1990 zum Präsidenten gewählt wurde. Denn mit dem zunehmenden Nationalismus in der Sowjetunion, der auch auf Russland selbst übergriff, erwuchs Gorbatschow nun in Jelzin, der in dem 1990 gewählten russischen Volkskongress seine Machtbasis fand, ein mächtiger Rivale. Anders als Gorbatschow, den der XXVIII. Parteitag 1990 als Generalsekretär bestätigte, trat Jelzin mit Aplomb aus der Partei aus und ließ sich 1991 vom Volk zum Präsidenten Russlands wählen. Da die Macht nun nicht länger von der Sowjetunion, sondern von den Einzelrepubliken ausging, wurde Gorbatschow immer mehr zu einem Präsidenten ohne Land. Er hielt sich 1990 zwar noch an dem Gedanken fest, mit Hilfe von mutigen Wirtschaftsreformern die Wirtschaft wieder in Gang bringen zu können, scheute aber letztlich vor einer entschlossenen Liberalisierung zurück. 1991 setzte er dann auf eine Reform der Unionsverfassung, traf aber auch hier auf Widerstand, insbesondere von Jelzin, der eine sehr viel schwächere Union wollte als Gorbatschow. Wenngleich er in der Auseinandersetzung mit diesen den Hardlinern in Staat und Partei weit entgegenkam, sahen letztere mit der drohenden Föderalisierung der Sowjetunion ihre Felle davonschwimmen, so dass sie im August 1991 gegen Gorbatschow putschten. Der im Urlaub weilende Präsident verweigerte die Zusammenarbeit mit den Putschisten, und Jelzin stellte sich diesen entschlossen entgegen, so dass der schlecht geplante Coup binnen zwei Tagen zusammenbrach. Gorbatschow kehrte zwar nach Moskau zurück, der Sieger hieß freilich Jelzin, der hinter dem Rücken Gorbatschows mit dem weißrussischen und ukrainischen Präsidenten am 8. Dezember die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten aus der Taufe hob. Gorbatschow blieb letztlich nichts als der Rücktritt am 25. Dezember 1991.
Taubman, der die Biographie seines Helden noch bis in die Gegenwart fortführt, bezeichnet Gorbatschow als "a visionary who changed his country and the world - though neither as much as he could or wished" (688). Am Ende dieser beeindruckenden Biographie, die den Stärken Gorbatschows genauso gerecht wird wie dessen Schwächen, setzt der Autor noch einmal die Größe der Aufgabe und das Erreichte in ein angemessenes Verhältnis. Und dabei schneidet Gorbatschow gar nicht so schlecht ab. Möglicherweise war sein mutiges, von Optimismus und Selbstbewusstsein getragenes Unterfangen von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Aber Gorbatschow machte letztlich das Beste daraus, der Kalte Krieg fand friedlich sein Ende, und das sowjetische Imperium brach weitgehend gewaltlos zusammen. Er war daher "a tragic hero who deserves our understanding and admiration" (693).
Anmerkung:
[1] Die deutsche Übersetzung des Buches ist vor wenigen Wochen erschienen: William Taubman: Gorbatschow. Der Mann und seine Zeit, München 2018.
Hermann Wentker