Stephanus de Borbone: Tractatus de diversis materiis preadicabilibus. Secunda Pars de dono pietatis (= Corpus Christianorum; CXXIV A), Turnhout: Brepols 2015, XXVIII + 695 S., ISBN 978-2-503-55258-3, EUR 385,00
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Nur wenig ist über das Leben des um 1180 geborenen Stephanus de Borbone (Étienne de Bourbon) bekannt. Nach Studien an den Pariser Schulen trat er spätestens 1223 in den Dominikanerorden ein, der zu dieser Zeit eine ungeheure Anziehungskraft auf junge Intellektuelle entfaltete. Der Konvent in Lyon wurde zu seiner Operationsbasis, von der aus er immer wieder zu ausgedehnten Predigtreisen nach Süd- und Ostfrankreich aufbrach. Nachdem er bereits 1226 in Vézelay gegen die Albigenser gepredigt hatte, wurde er wohl um 1235 mit dem Amt des Inquisitors in der Diözese Valence betraut. Sein Wirken blieb nicht unbemerkt: mit vielen berühmten Zeitgenossen wie Jacques de Vitry stand er in brieflichem Kontakt. Er starb um 1261.
Gegen Ende seines Lebens, wohl zwischen 1250 und 1261, verfasste Stephanus sein Hauptwerk, ein Predigerhandbuch, in dem er all das versammelte, worauf er im Laufe seiner Tätigkeit als Prediger und Inquisitor immer wieder zurückgegriffen hatte: eine Fülle von Beispiel- und Gleichniserzählungen, exempla und similitudines, mit denen er - und nach ihm viele andere Prediger - die eigenen Sermones sehr viel attraktiver und lebendiger gestalten konnte. In den Handschriften taucht das Werk als Tractatus de diversis materiis praedicabilibus auf, aufgrund seiner inneren Gliederung, die sich an den Sieben Gaben des Heiligen Geistes ausrichtet, zirkulierte es jedoch auch unter dem Namen De septem donis spiritus sancti. [1]
Für die hier vorliegende Edition des zweiten, der Gabe der Frömmigkeit (de dono pietatis) gewidmeten Teils des Tractatus, zeichnet Jacques Berlioz als Herausgeber verantwortlich [2], der dabei freilich auf frühere Arbeiten von Denise Ogilvie-David und Colette Ribeaucourt zurückgreifen konnte.
Étienne de Bourbon will, so klingt es im Prolog an, im zweiten Teil all diejenigen Dinge behandeln, die "zu erhoffen" sind, all das, was den Menschen hin zu Gott zieht und seine Frömmigkeit bestimmt. Dabei sind sieben Dinge von besonderer Bedeutung: das Wort Gottes (de verbo Dei), die Frömmigkeit bzw. die Betrachtung der göttlichen Barmherzigkeit (de pietate et de consideratione misericordie Dei), die Menschwerdung Christi (de incarnationis Christi consideratione), seine Passion (de passione Christi), Exempla über das Kreuz, die Passion (de diversis effectibus, comparalibus et exemplis crucis et passionis Christi) und über Maria (de beata Maria) und schließlich die Werke der Barmherzigkeit (de operibus misericordie). Diese sieben Dinge strukturieren als tituli das zweite Buch, wobei der Maria gewidmete titulus allein 111 Erzählungen, mithin 30% des Werks umfasst und von der ausgeprägten Marienfrömmigkeit des Verfassers zeugt.
Die Quellen, auf die der gelehrte Dominikaner in seinen insgesamt 482 Erzählungen bzw. Vergleichen zurückgreift, spiegeln eine große Spannbreite wider. Häufiger bringt sich der Autor selbst ins Spiel, wenn er die jeweilige Erzählung durch ein "ich habe sagen gehört" oder "ich habe gelesen" authentisiert. Mitunter scheint er selbst Zeuge des von ihm Berichteten gewesen zu sein (De illo cui adhesit bufo in facie uidit frater Stephanus, operis huis auctor, plures qui illum uiderunt; II, vii, 1961). Erzählungen scheinen umso vertrauenswürdiger, je prominenter die Gewährsleute sind. Explizit genannt werden so die Dominikaner Arnaud de Lyon, Jordan von Sachsen oder Heinrich von Köln, die Weltpriester Guillaume d'Auvergne, Nicolas de Flavigny oder auch die Kardinäle Jacques de Vitry und Eudes de Châteauroux. Aber auch weniger prominente Zeitgenossen wie Guillaume de Nevers kommen zu Wort. Sind die Exempla brauchbar, scheut sich Stephanus auch nicht, auf anonyme Quellen zu verweisen. Immerhin rund 60 Erzählungen kommen ohne jede Quellenangabe aus. Als hagiographische Hauptquelle scheint die Abbreviatio in gestis et miraculis sanctorum seines Ordensbruders Jean de Mailly fungiert zu haben. In 150 Erzählungen lässt sich ein entsprechender Rückgriff nachweisen.
Fünf Handschriften überliefern den Tractatus (oder Teile davon) in einem frühen Bearbeitungsstatus. Die Pariser Handschrift BnF, lat. 15970, vom Ende des 13. Jahrhunderts stammend, wurde der vorliegenden Edition zugrunde gelegt. Sie befand sich einst im Besitz des 1306 verstorbenen Pariser Theologen Pierre de Limoges, der seine Handschriften geschlossen der Sorbonne vermachte. Hinzugezogen wurden darüber hinaus drei weitere Textzeugen (Paris, BnF, lat. 14598; Heidelberg, Universitätsbibliothek, Salem X, 2, I; Erlangen, Universitätsbibliothek, 341/1).
Die interne Gliederung der Handschriften, die wohl auf Étienne de Bourbon selbst zurückgeht, unterteilt jedes der fünf Bücher des Traktats in tituli, die einzelnen tituli in Kapitel, die ihrerseits noch einmal auf der Grundlage der ersten sieben Buchstaben des Alphabets untergliedert werden. Lediglich auf letztere "Mikrountergliederung" wurde hier aufgrund des uneinheitlichen Gebrauchs in den Handschriften verzichtet. Im kritischen Apparat werden entsprechende Verweise aber erwähnt. Zitiert wird mithin korrekt wie folgt: eine Nennung der Art "II, vii, 1961" verweist auf das zweite Buch des Traktats, den siebten titulus und die Linie in vorliegender Edition. Damit lässt sich innerhalb des Textes bequem navigieren.
Die Titel der einzelnen Erzählungen, die in den Handschriften hervorgehoben marginal oder im fortlaufenden Text erscheinen und das Ganze strukturieren, wurden im Editionstext ebenfalls fett hervorgehoben.
Die Editionsprinzipien (XXI-XIV) sind wohlbegründet und folgen denjenigen der bereits erschienen Teile des Tractatus. Berlioz arbeitet mit vier Apparaten: neben einem apparatus biblicus und einem apparatus fontium findet sich ein apparatus criticus. Gesondert verzeichnet werden die Marginalglossen.
Der Erschließung des Erzählbestands dienen einige Hilfsmittel, zunächst natürlich die mit äußerster Akribie gearbeiteten Indices (Index locorum S. Scripturae; Index auctorum, relatorum et operum anonymorum; Index personarum, locorum rerumque exemplorum) und ein kurzes lateinisch-französisches Glossar, in dem sich ungewöhnliche Worte bzw. Ausdrücke verzeichnet finden.
Eine detaillierte Inhaltsgliederung liefert eine Tabula materiae secundae partis (377-390). Ein nahezu 200 Seiten umfassender Abschnitt (Fontes exemplorum similitudinumque) dient nicht nur dem minutiösen Quellennachweis, sondern bietet auch eine französische Kurzzusammenfassung der jeweiligen Erzählung.
Es sind wohl vor allem Predigt- und Erzählforscher, die zukünftig auf diese Edition zurückgreifen werden, in der Étiennes de Bourbon Text mustergültig präsentiert wird. Aber die Geschichtsforschung insgesamt wird gut daran tun, die Aussagekraft dieser Exempla nicht zu gering zu veranschlagen. Die "frommen Märlein" von einst sind zur ernstzunehmenden Quellegattung mutiert, die insbesondere für mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen von großer Relevanz ist. Auf die Folgebände darf man gespannt sein.
Anmerkungen:
[1] Das Gesamtwerk blieb unvollendet. Lediglich fünf Teile, d. h. fünf Gaben des Heiligen Geistes, wurden von Étienne de Bourbon bearbeitet.
[2] Bereits 2002 und 2006 erschien die Edition des Prologs, des ersten und des dritten Teils, vgl. Stephani de Borbone Tractatus de diversis materiis praedicabilibus. Prologus - Liber primus. De dono timoris (Corpus Christianorum, Continuatio Mediaevalis, 124), hg. v. Jacques Berlioz, Turnhout 2002; Stephani de Borbone Tractatus de diversis materiis praedicabilibus. Liber tertius: de eis que pertinent ad donum scientie et penitentiam (Corpus Christianorum, Continuatio Mediaevalis, 124 B), hg. v. Jacques Berlioz, Turnhout 2006.
Ralf Lützelschwab