Rezension über:

Christoph Kühberger / Herbert Neureiter: Zum Umgang mit Nationalsozialismus, Holocaust und Erinnerungskultur. Eine quantitative Untersuchung bei Lernenden und Lehrenden an Salzburger Schulen aus geschichtsdidaktischer Perspektive, Schwalbach: Wochenschau-Verlag 2017, 175 S., ISBN 978-3-7344-0443-6, EUR 15,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Robert Sigel
Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, München
Redaktionelle Betreuung:
Christian Kuchler
Empfohlene Zitierweise:
Robert Sigel: Rezension von: Christoph Kühberger / Herbert Neureiter: Zum Umgang mit Nationalsozialismus, Holocaust und Erinnerungskultur. Eine quantitative Untersuchung bei Lernenden und Lehrenden an Salzburger Schulen aus geschichtsdidaktischer Perspektive, Schwalbach: Wochenschau-Verlag 2017, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 5 [15.05.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/05/30017.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Christoph Kühberger / Herbert Neureiter: Zum Umgang mit Nationalsozialismus, Holocaust und Erinnerungskultur

Textgröße: A A A

Die Studie, deren Ergebnisse Christoph Kühberger und Herbert Neureiter in ihrer Publikation "Zum Umgang mit Nationalsozialismus, Holocaust und Erinnerungskultur. Eine quantitative Untersuchung bei Lernenden und Lehrenden an Salzburger Schulen aus geschichtsdidaktischer Perspektive" vorstellen, ist ein gemeinsames Projekt der Pädagogischen Hochschule Salzburg und des dortigen Bundeszentrums für Gesellschaftliches Lernen. Die Autoren stellen der Darstellung und Analyse der Studienergebnisse eine Einführung voran, die den Umgang Österreichs mit seiner nationalsozialistischen Geschichte nach 1945 thematisiert und dabei aufzeigt, wie der Opfermythos über Jahrzehnte und über Parteigrenzen hinweg als Staatsdoktrin fungierte, ein Mythos, der erst in den achtziger Jahren und besonders im Zusammenhang mit der Waldheim-Affäre in Frage gestellt und erst zu Beginn der neunziger Jahre durch eine Art "sowohl-Opfer-als auch-Täter" These abgelöst wurde. In einem zweiten Eingangskapitel referieren die Autoren den Forschungsstand zur didaktischen Entwicklung des Lehrens und Lernens über den Nationalsozialismus in Österreich und geben den Fachdiskurs in seiner wesentlichen Entwicklung kommentiert wieder.

Die Forschungsfragen der Studie gehen von der öffentlichen Gedenk- und Erinnerungskultur in Österreich, insbesondere in Salzburg, aus; nach einer ganzen Reihe von Schändungen und Zerstörungen von NS-bezogenen Denkmälern und Mahnmalen, die an die Opfer der nationalsozialistischen Diktatur erinnern, war es ein wesentliches Ziel, herauszufinden, inwieweit solche öffentliche Erinnerung "einen Platz im Rahmen des schulischen Lernens in der Stadt Salzburg einnimmt" (22). Fragen und Antworten und damit die Ergebnisse der Studie gehen allerdings weit über diese Ausgangszielsetzung hinaus. Die drei Hauptfragebereiche der Schülererhebung (1. "Nationalsozialismus und Holocaust", 2. "Nationalsozialismus und Holocaust im Geschichtsunterricht", 3. "Erinnern und Mahnen") sowie die vier thematischen Aspekte in der Befragung der Lehrpersonen (1. "'Holocaustdidaktik'", 2. "Erinnerungskultur", 3. "Extremismus", 4. "Holocaustgedenken und Migrationsgesellschaft") machen das weite Forschungsinteresse deutlich: Es geht letztlich darum herauszufinden, wie die Lernenden und Lehrenden den Unterricht zu diesem Thema erfahren, erweitert bei den Lehrpersonen um das Forschungsinteresse an deren Motivation und didaktischem Vorgehen.

Befragt wurden Schülerinnen und Schüler der achten Jahrgangsstufe der sogenannten Neuen Mittelschulen in Salzburg sowie Lehrkräfte dieser Schulen. Dabei, so betonen die Autoren, war es nicht Absicht der Studie, "[e]inen Vergleich zwischen den [Aussagen der] Schülerinnen und Schüler und [denen] ihre[r] eigenen Lehrerinnen und Lehre[r] herzustellen" (37). Das Alter der befragten Schülerinnen und Schüler variierte zwischen 13 und 17 Jahren, die überwiegende Mehrheit allerdings (über 85 Prozent) war 14 oder 15 Jahre alt. Zum Migrationshintergrund der befragten Schülerschaft: 15,4 Prozent der Schülerinnen und Schüler wurden im Ausland geboren, von 51,8 Prozent wurde mindestens ein Elternteil im Ausland geboren. Die befragten Lehrkräfte waren zwischen 29 und 62 Jahre alt, das Durchschnittsalter betrug 54 Jahre, deutlich überwogen die weiblichen Lehrpersonen mit 87,5 Prozent. Die Befragung der Schülerinnen und Schüler fand im Sommersemester 2015, die der Lehrpersonen im Wintersemester 2015/16 statt.

Geschichte sowie Politische Bildung/Sozialkunde werden an diesen Schulen als ein kombiniertes, gemeinsames Fach unterrichtet. Die Autoren stellen, bevor sie die Ergebnisse der Erhebung thematisieren, den Lehrplan sowie einen Exkurs zur Schulbuchentwicklung voraus - für den Leser eine wichtige Hilfe zum Verständnis und zur Bewertung der Ergebnisse. Die Ergebnisse der Studie werfen einige relevante Fragen auf, die Beschränktheit der quantitativen Erhebung gegenüber einer (ergänzenden) qualitativen Studie wird dabei immer wieder schmerzlich spürbar und auch von den Autoren benannt.

Vier geschlossene Fragen zu Daten, Begriffen und Personen (1. "Was war die sogenannte Reichskristallnacht? ", 2. "Von wann bis wann war der Nationalsozialismus in Österreich an der Macht?", 3. "Was war die NSDAP? Wer war Adolf Hitler?" - Jeweils fünf Antwortmöglichkeiten) sollten einen Einblick in das Basiswissen der Schülerinnen und Schüler geben. Die Ergebnisse hier sind durchaus ernüchternd und fordern eine (er)klärende Debatte. Immerhin decken sich diese weitgehend mit der Selbsteinschätzung der Befragten zu ihrem Wissen. Bei der Befragung der Lehrerinnen und Lehrer wurden keine Fragen zum Fachwissen gestellt. Zahlreiche Ergebnisse der Befragung entsprechen den von Erfahrungswissen geprägten Erwartungen. Aber es gibt auch nicht wenige überraschende Erkenntnisse. So findet der österreichische Opfermythos bei den befragten Schülerinnen und Schülern eine höhere Akzeptanz als in der Gesamtgesellschaft, ein eher unerwartetes Ergebnis; eine qualitative Studie hätte hier möglicherweise Erkenntnisse erbracht, wie diese Differenz zu erklären ist, ob sie womöglich mit dem Unterricht zu diesem Thema zusammenhängt, etwa mit der besonderen Betonung des Widerstandes in Österreich, der in der Befragung der Lehrerinnen und Lehrer in seiner Bedeutung noch vor der Befassung mit den Opfern des NS-Regimes rangiert.

Die Befragung der Lehrkräfte zeigt zunächst die hohe Wertigkeit, welche jene dem Thema Nationalsozialismus und Holocaust beimessen und die sich auch in ihrem unterrichtlichen Engagement zeigt. Gerade angesichts dessen verwundert es, dass im Zusammenhang mit den Lehrmethoden und den Unterrichtsstrategien dem Besuch einer KZ-Gedenkstätte nur eine relativ geringe Bedeutung zugemessen wird, was sich in der geringen Anzahl der Besuche in den Gedenkstätten niederschlägt. Die Mahnmale in Salzburg allerdings finden durchaus Berücksichtigung im Unterricht.

Befremdlich in dieser Erhebung ist eine Antwortmöglichkeit bei der Frage nach den "grundlegende[n], persönliche[n] Haltungen hinsichtlich verschiedener Zugänge zum Unterricht im Umgang mit dem Nationalsozialismus und Holocaust" (77): "Es ist mir persönlich wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler der Vereinnahmung u. Instrumentalisierung des Holocaust durch Opferverbände u. durch den Staat Israel kritisch gegenüberstehen" (79). Die Erhebung gibt den Lehrkräften hier eine fünfskalige Antwortmöglichkeit, die von "trifft überhaupt nicht zu" bis "trifft absolut zu" reicht. Mit welchen Erwartungen wurde diese Antwortmöglichkeit angeboten, welches Erkenntnisinteresse steht dahinter? Was meinen die Autoren, wenn sie bei der Bewertung des Ergebnisses davon sprechen, dass "die neutralen Haltungen (teils-teils)" (78) auffällig seien?

Die überaus interessante und wertvolle Fülle an Ergebnissen kann in dieser Rezension nur angedeutet, nicht ausgebreitet werden, so etwa die Erkenntnisse zu vorhandenen beziehungsweise nicht vorhandenen Abweichungen der Schülerinnen und Schüler mit migrantischem Hintergrund. Interessant ist auch die Erkenntnis, dass die befragten Lehrkräfte die Bedeutung des schulischen Unterrichts für das Geschichtsbild und das Geschichtsbewusstsein ihrer Schülerinnen und Schüler relativ gering einschätzen und hinter Familie und Peergroup einordnen, während die Schülerinnen und Schüler eben diesem Geschichtsunterricht eine wesentlich höhere Bedeutung beimessen und ihn als die entscheidende Instanz benennen.

In einem abschließenden Kapitel diskutieren die Autoren "Mögliche Konsequenzen" für den Geschichtsunterricht; hier finden sich sowohl eher spezifisch österreichische Forderungen, wie die nach einer Hinterfragung der Überhöhung des Widerstandes in Schulbüchern und im Unterricht als auch Aspekte, die durchaus über den Salzburger und österreichischen Kontext hinaus relevant sind, so die Bedeutung der Menschenrechtsproblematik im historisch-politischen Lehren und Lernen zu diesem Thema.

Sehr angenehm ist, dass die Autoren die wesentlichen statistischen Ergebnisse am Ende der Analysekapitel noch einmal zusammenfassen. Im Anhang findet sich der gesamte Fragenkatalog einschließlich der Daten der Schüler- wie der Lehrerbefragung. Für alle in diesem Feld der schulischen wie der außerschulischen Vermittlung und Bildung, an den Hochschulen und Universitäten sowie in den zuständigen Ministerien Tätigen eine sehr empfehlenswerte Lektüre.

Robert Sigel