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Maren Tribukait: Gefährliche Sensationen. Die Visualisierung von Verbrechen in deutschen und amerikanischen Pressefotografien 1920-1970, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017, 438 S., 102 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-30092-3, EUR 70,00
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Rezension von:
Eszter Kiss
Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam
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Empfohlene Zitierweise:
Eszter Kiss: Rezension von: Maren Tribukait: Gefährliche Sensationen. Die Visualisierung von Verbrechen in deutschen und amerikanischen Pressefotografien 1920-1970, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 5 [15.05.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/05/30747.html


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Maren Tribukait: Gefährliche Sensationen

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Die Fotografie und der Tod - in den letzten Jahrzehnten wurde bereits einiges über diese besondere Verbindung geschrieben. Die Theoretiker Susan Sontag und Roland Barthes dachten grundlegend über das Verhältnis zwischen Vergänglichkeit und Fotografie nach. In der historischen und kunstgeschichtlichen Forschungsliteratur stehen die Werke von Gerhard Paul, Katharina Sykora, Christine Karallus sowie Charlotte Klonk für die systematische Betrachtung einzelner Teilaspekte wie Kriegsfotografie, Totenpraktiken, Tatortfotografie oder Terrorismus. [1] Einen weiteren zentralen Bereich des Themenkomplexes "Tod und Fotografie" stellt die medialisierte Kriminalität dar. Nun wagt sich Maren Tribukait mit ihrer 2017 unter dem Titel "Gefährliche Sensationen. Die Visualisierung von Verbrechen in deutschen und amerikanischen Pressefotografien 1920-1970" erschienenen Dissertation an die Erkundung dieses höchst ambivalenten Untersuchungsgegenstandes.

Ihre Studie widmet sich der historischen Entwicklung der Darstellungskonventionen von Gewalt, toten Körpern und Kriminalität. Dabei analysiert sie schwerpunktmäßig die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts und nimmt mit der Massenpresse einen besonderen Produktions- sowie Verwertungskontext in den Fokus, der auch noch heute einen Brennpunkt zahlreicher Debatten bildet. [2] Bei der Untersuchung der fotografischen Visualisierungen von Kapitalverbrechen in den deutschen und amerikanischen Boulevardmedien werden zwar immer wieder die Zusammenhänge zwischen "Ethik und Ästhetik" - eigentlich Kategorien der Philosophie - gestreift. Doch Tribukait legt insgesamt eine Studie vor, die genuin (medien)historischen Fragestellungen verpflichtet ist.

Welche unterschiedlichen Funktionen hatten die massenmedial verbreiteten Verbrechensbilder seit den 1920er Jahren und welche Wirkungen vermochten sie auszulösen? Welche Kritik riefen die amerikanischen, welche die deutschen Aufnahmen hervor und wie veränderte sich die Kritik vor dem Hintergrund der politischen Umbrüche?

Tribukait verspricht dem Leser, ihn auf drei unterschiedliche Untersuchungsebenen mitzunehmen. Erstens soll bei den geschilderten Fallbeispielen stets die Medienproduktion berücksichtigt werden. In allen drei Hauptkapiteln, die zuerst die Macht der amerikanischen Tabloids darstellen (Kapitel I), dann auf die gemäßigteren Visualisierungsversuche in den deutschen Boulevardmedien fokussieren (Kapitel II) und schließlich die illustrierten Fotomagazine in den beiden Untersuchungsländern transfergeschichtlich knapp berücksichtigen (Kapitel III), spielt die Produzentenseite eine zentrale Rolle. Im spektakulären Fall der während ihrer Hinrichtung (1928) abgelichteten Ruth Snyder etwa schildert die Autorin die Entstehung der irritierenden Aufnahme detailliert. Trotz eines bestehenden Verbots schmuggelte ein Bildreporter für die New Yorker Daily News eine Kamera in das Gefängnis, in dem Snyder hingerichtet wurde. Ihr Bild auf dem elektrischen Stuhl war wenige Stunden nach ihrem Tod auf der Titelseite der Tabloids zu sehen. Die Vorgehensweise des Fotografen und der Daily News-Redaktion bedeutete eine massive "technische, institutionelle und ethische Grenzüberschreitung" (94), die sich nicht nur zu einer weitreichenden berufsethischen Diskussion ausweitete, sondern letztlich auch zu einer strengeren Durchsetzung des Fotografierverbots im Zusammenhang mit der Todesstrafe führte.

Dabei wäre ein intensiverer Blick auf die besonderen Logiken des redaktionellen Alltags und somit eine Weitung des Quellenkorpus lohnenswert gewesen. Wer hat welche Einzelentscheidungen bezüglich der vorgestellten Verbrechensfotografien getroffen? Welche Kräfteverhältnisse herrschten in den amerikanischen beziehungsweise deutschen Redaktionen zwischen Text- und Bildjournalisten und inwiefern änderten sich diese zwischen 1920 und 1970?

Die Medienwirkung stellt Tribukaits zweite Untersuchungsebene dar. Dieser Zugang erscheint indes nicht ausbalanciert, weil die Autorin - abgesehen von veröffentlichten Memoiren, und einigen wenigen Nachlässen (von Fotograf Weegee und Zeitungsforscher Emil Dovifat) - kaum auf die breitere Rezeption zugreifen kann. Dieser Problematik ist sich Tribukait bewusst: Sie deutet sie in ihrer Einleitung an. Einen roten Faden bilden daher in allen drei Hauptkapiteln die engeren, weil sich auf Fachkreise beschränkenden, Auseinandersetzungen mit "Skandal"-Fotos. Beispielsweise versuchten die staatlich-institutionellen Gegner des Sensationsjournalismus während der Weimarer Republik nach der ausgiebigen Darstellung der Taten eines Serienmörders (vgl. den Kürten-Fall) regelnd einzugreifen. Die Berliner Justiz und das Landesjugendamt bemühten sich, mäßigend auf die Boulevardblätter einzuwirken. Ironischerweise "waren es also [entgegen der Befürchtungen] weder wirtschaftliche Interessengruppen, noch die Sensationsorientierung der Boulevardzeitungen, die den freien Journalismus [vor dem Machtzugewinn der Nationalsozialisten] gefährdeten, sondern die Bedrohung ging vom Staat aus". (267) Die durch die Nationalsozialisten ab 1933 eingeführte repressive Bildpolitik bezüglich Kriminalitätsfotografien konnte demnach auf obrigkeitsstaatliche Traditionen aus der Weimarer Republik und der Kaiserzeit zurückgreifen. Die Medienwirkung setzt Tribukait an vielen Stellen der Studie mit zeitgenössischer Medienkritik gleich. Die Stimmen der Leser - diesseits und jenseits des Atlantiks - kann "Gefährliche Sensationen" hingegen nicht einfangen.

Die eindeutig stabilste Säule der Arbeit ist die dritte und letzte Untersuchungsebene, die sich auf die Repräsentationen konzentriert. "Dabei geht es darum, auf dem Weg der symbolischen Interpretation der Bilder mögliche zeitgenössische Lesarten zu diskutieren." (18) Tribukait nimmt ihren Untersuchungsgegenstand - das Verbrechensbild - im Sinne der Visual History ernst und nähert sich dem "studium", vielleicht sogar "punctum" (Roland Barthes), der Zeitgenossen an. Am Beispiel der sich seit 1929 etablierenden visuellen Ikone des "toten Gangsters" zeigt sie Schritt für Schritt, welche ambivalenten Funktionen dem Motiv zwischen "Unterhaltung und Aufklärung" in der amerikanischen Medienkultur zukamen. Die Gangster-Fotos konnten eine ethische Appellfunktion entfalten, schließlich zeigten sie, wie Menschen zu Tode kamen. Sie wurden gelegentlich als Trophäen kriminellen Scheiterns betrachtet und leisteten darüber hinaus der für die Welt der Kunstgalerien relevanten Ästhetisierung der Gewalt Vorschub (vgl. Weegees künstlerischen Erfolg mit den Fotos der "einsamen Leiche"). Für die Verleger waren sie ein Verkaufsargument und für die kaufkräftige Kundschaft eine willkommene Ablenkung vom Alltag.

Trotz der angesprochenen Lücken hinsichtlich der Frage der Bildrezeption sowie einem deutlichen Ungleichgewicht in der Erarbeitung der Untersuchungsergebnisse für die ausführlich bedachten Boulevardzeitungen und den zu knapp abgehandelten Illustrierten, lohnt die Lektüre von "Gefährlichen Sensationen". Die Stärke von Tribukaits Buch liegt im analytischen Blick und in der transnational vergleichenden Perspektive auf die sich wandelnden Zeigbarkeitsregeln in den USA und Deutschland. Die Studie macht deutlich, dass die deutschen Medien keine mehrheitlich akzeptierte Form der Kriminalitätsdarstellung zu entwickeln vermochten. Sie waren zudem einer fundamentalen und für ihre Existenz als bedrohlich wahrgenommenen Kritik (unter anderem von staatlicher Seite) ausgesetzt. Die amerikanischen Blätter hingegen spielten viel offener mit dem Reiz des Themas. Ein intensiverer Austausch zwischen den beiden Medienkulturen fand vor dem Hintergrund des sich international vernetzenden Fotojournalismus seit den 1960er Jahren statt.

Dass die Darstellungskonventionen stets widersprüchlich waren, wird dem Leser unmissverständlich vor Augen geführt. Schließlich reagiert das massenmediale Zeigen von Gewalttaten auf die grundsätzlich vorhandene Schaulust der Menschen - und dies mitsamt aller vorstellbaren und uns noch heute beschäftigenden Ambivalenzen.


Anmerkungen:

[1] Gerhard Paul: Der Bilderkrieg. Inszenierungen, Bilder und Perspektiven der "Operation Irakische Freiheit", Göttingen 2005; Gerhard Paul: Bilder des Krieges - Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges, Paderborn 2004; Katharina Sykora: Die Tode der Fotografie. Band 1: Totenfotografie und ihr sozialer Gebrauch, München 2009; Katharina Sykora: Die Tode der Fotografie. Band 2: Tod, Theorie und Fotokunst, München 2015; Christine Karallus: Die Sichtbarkeit des Verbrechens. Die Tatortfotografie als Beweismittel um 1900, Berlin 2017; Charlotte Klonk: Terror. Wenn Bilder zu Waffen werden, Frankfurt/M. 2017.

[2] Vgl. dazu Ullrich Fichtner / Matthias Geyer: "Die Welt, wie sie ist", in: Spiegel 38 (2015), 52-55. Online: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-138603642.html

Eszter Kiss