Josephine Crawley Quinn: In Search of the Phoenicians (= Miriam S. Balmuth Lectures in Ancient History and Archaeology), Princeton / Oxford: Princeton University Press 2018, XXVIII + 335 S., 15 Kt., 30 s/w-Abb., ISBN 978-0-691-17527-0, GBP 27,95
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Die Oxforder Althistorikerin erregt mit dieser 360 Seiten umfassenden Monographie erhebliche Aufmerksamkeit, behauptet sie doch, die Phönizier habe es nicht gegeben, sondern sie seien ein Geschichtskonstrukt! Für diejenigen jedoch, die sich mit den Zeugnissen und jüngeren Publikationen zu den Phöniziern befasst haben, stellt dies indes keine Neuigkeit dar: Die Bezeichnung "Phönizier" ist eine fremde, griechische und lateinische, und es gibt keine Anzeichen für eine phönizische Ethnie oder die Ausbildung eines gesamt-phönizischen Gemeinwesens, sei es in politischer, religiöser, wirtschaftlicher, sozialer, etc. Weise. In der Moderne konstruierten unterschiedliche Interessensgruppen aus solch fremden Bezeichnungen und Beschreibungen ein ihnen dienliches Phöniziertum, bekanntermaßen etwa in der Politik des Libanon im frühen 20. Jahrhundert (3-12, 14-16) oder Tunesiens in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts (12-14), aber auch in der Wissenschaft (16-24).
Basierend auf den von ihr im Jahr 2012 gegebenen Miriam S. Balmuth Lectures an der Tufts University nimmt Quinn allerdings mit außerordentlicher Sorgfalt und spitzer Feder so virtuos wie konsequent jegliche Zeugnisse und Annahmen des vermeintlichen Phöniziertums auseinander, dekonstruiert jedes Detail, zunächst der schriftlichen (25-62), dann der archäologischen (65-131) Zeugnisse. Es dürfte niemanden geben, der keine neuen Denkanstöße erhält, etwa zur Nicht-Existenz in Phönizisch verfasster Literatur (61) oder zur Aneignung des Fremdbildes in Form der Palme als Eigenbild in der karthagischen Münzprägung (86-90).
Diese tabula rasa mag aber auch verstörend wirken, gab es doch die Bewohner etwa von Sidon, Tyros, Karthago, Cádiz. Sie sprachen die gleiche Sprache und verwendeten die gleiche Schrift, wenngleich mit unterschiedlichen Ausprägungen, und sie teilten einen gemeinsamen epigraphic habit. Ihre Sitten, Bräuche, Vorstellungen, materiellen Welten, verwendeten Technologien etc. sind vergleichbar, etwa in der Keramikproduktion und im Bestattungswesen. Darüber hinaus hat es ein funktionierendes Kommunikationsnetzwerk gegeben, denn Änderungen wurden gleichermaßen aufgegriffen. Jedoch, wie Quinn hervorhebt, können wir damit jeweils nur bestimmte Gemeinschaften fassen, so etwa anhand der anthropoiden Sarkophage die beliebte Ausdrucksmöglichkeit einer urbanen, kosmopolitischen Gruppe (74-78) oder anhand der Unterhaltung eines Tophet die religiösen Praktiken einer im zentralen Mittelmeerraum siedelnden Gruppe (91-111). Es dürfte viele stabile bis volatile Gemeinschaften auf politischen, sozialen, religiösen, etc. Ebenen an sich vermutlich überlagernden Selbst-Identifikationen gegeben haben [1], die unser Bedürfnis nach Feststellung einer Einheitlichkeit herausfordern.
In ihrer conclusio stellt Quinn nämlich unmissverständlich klar (200-201), dass es zwar keine Zeugnisse eines Selbstverständnisses derjenigen als Phönizier gibt, die wir als solche bezeichnen, aber dies durchaus eine von mehreren möglichen Selbst-Identifizierungen gewesen sein könnte ("I do not conclude from this absence of evidence that the Phoenicians did not exist, nor that nobody ever called her- or himself a Phoenician under any circumstances: Phoenician-speakers undoubtedly had a larger repertoire of self-classifications", 201). Aus einem interessanten ethnographischen Verweis hervorgehend könnten wir eventuell gar diese Entziehung einer Selbst-Definierung und kohärenten Identitätsbildung als verbindendes und grundlegendes Element der "Phönizier" ansehen (201 ff.).
Es ist jedoch nicht ihr Anliegen, dieses Repertoire an Selbst-Klassifizierungen nachzuzeichnen, sondern sie verfolgt konsequent weiter die Dekonstruktion des Phöniziertums durch Aufzeigen deren verschiedener Konstruktionen und Aneignungen zur Verleihung von historischer Tiefe eigener Identitätsbildungen und Abgrenzungen. Von den vielen möglichen Facetten wählte sie die englische, britische und irische aus (176-200). Gut Erforschtes wie die Identifikation Großbritanniens mit den seefahrenden Phöniziern in Opposition zu dem "römischen" Frankreich im späten 17. und 18. Jahrhundert bereichert sie um bisher eher unbeachtete lehrreiche wie unterhaltsame Details, etwa die Zuweisung der Errichtung von Stonehenge an die bekanntermaßen Steine-aufstellenden Phönizier durch Aylett Sammes 1676 (184). Anhand dieses englisch-britisch-irischen Laboratoriums zeigt sie gekonnt auf, wie wenig kohärent, ja oft widersprüchlich diese Konstruktionen und Aneignungen ausfallen und wie sehr sie allein der jeweiligen Intention des Autors, seiner Zeit und Region und seines Selbst-Bildes unterworfen sind.
Daher darf es nicht erstaunen, dass der Umgang damit - diese Konstruktion, Aneignung und Selbstidentifikation von bzw. mit den Phöniziern - kein Phänomen der Moderne, sondern bereits des Hellenismus und der römischen Kaiserzeit ist (135-175). In der Zeit nach Alexander dem Großen hätte die phönizische Kultur aufgehört zu existieren, lautet ein längst hinterfragtes und widerlegtes Dogma. [2] Aber sie existierte und veränderte sich nicht nur weiter, sondern es entwickelten sich mannigfaltige, dynamische Eigenleben: Bilder auf Münzen etwa von Tyros, Sidon, Byblos sind nicht (nur) Tradierungen, sondern zeitgebundene Innovationen (136-140), die libysche Hafenstadt Lepcis Magna inszenierte ihr teils fragwürdiges "Phönizisch-Sein" zur Untermauerung der eigenen Ehrwürdigkeit (153-159), um nur zwei von vielen Beispielen zu nennen. Ist das gezielte Herausstellen der eigenen Geschichte aufgrund eigener Bedürfnisse und Anliegen zwar bereits aufgezeigt worden [3], so bietet Quinn in der Zusammenschau der quellenkritisch beleuchteten Zeugnisse ein breiteres Verständnis von zeitgebundenen Phönizier-Bildern.
Quinn zwingt ihre Leserinnen und Leser zum grundlegenden Überdenken eigener Anliegen, Vorstellungen und Begrifflichkeiten von Volk, Nation, Kultur, Ethnie, das für eine breite Leserschaft und auch für andere geistes- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen wertvoll ist. Dabei stellt sie eine Fülle von Zeugnissen zur Verfügung - die auch für jene, die sich von ihrem eigenen Phönizierbild nicht verabschieden wollen, instruktiv sind. Sie präsentiert sie in einer (für Nicht-Muttersprachler) ebenso einfach verstehbaren wie präzisen und eleganten Sprache, die ein ganz eigenes Lesevergnügen bietet. Ihre Monographie ist somit ein Meilenstein hervorragender, innovativer zeitgenössischer Forschung. Doch wer weiß, welche Anliegen in Zukunft formuliert und hinterfragt, und welche Phönizierbilder dann entworfen und verworfen werden?
Anmerkungen:
[1] Siehe etwa die zwei Bände von Giuseppe Garbati / Tatiana Pedrazzi (eds.): Transformations and Crisis in the Mediterranean, Rom 2015 / 2016.
[2] Siehe etwa Jessica Nitschke: Perceptions of Culture. Interpreting Greco-Near Eastern Hybridity in the Phoenician Homeland, Dissertation Berkeley 2007; Corinne Bonnet: Les enfants de Cadmos. Le paysage religieux de la Phénicie hellénistique, Paris 2015.
[3] Siehe etwa Alfred Hirt: Bild und Kontext. Eine Annäherung an die tyrische Bronzeprägung des 3. Jahrhunderts n. Chr., Hefte des Archäologischen Seminars der Universität Bern 21, 2009, 77-94.
Bärbel Morstadt