Tomas Balkelis / Violeta Davoliūtė (eds.): Population Displacement in Lithunia in the Twentieth Century. Experiences, Identities and Legacies (= On the Boundary of Two Worlds. Identity, Freedom, and Moral Imagination in the Baltics; Vol. 43), Leiden / Boston: Brill 2016, XII + 263 S., ISBN 978-90-04-31409-2, EUR 101,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Der vorliegende, an der Fakultät für Geschichte der Universität Vilnius entstandene Sammelband nimmt mit "Litauen" ein Gebiet in den Fokus, das im hier behandelten 20. Jahrhundert in seinen räumlichen wie auch politischen Grenzen disparat und zudem von einer Bevölkerung besiedelt war, die in ethnischer Hinsicht höchst heterogen war. Vor diesem Hintergrund bietet der thematische Fokus, die Bevölkerungsverschiebung ("population displacement") während zweier Weltkriege sowie in einer bewegten Zwischen- und Nachkriegszeit, ein überaus breites Feld für mögliche Einzeluntersuchungen. Intendiert ist, so die Herausgeber Tomas Balkelis und Violeta Davoliūtė, die im litauischen kollektiven Bewusstsein tief verankerten Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg mit vorausgegangenen Entwicklungen zu verknüpfen und somit aus ihrer Isoliertheit herauszulösen.
Die um ein Vorwort von Peter Gatrell ergänzten Einzelbeiträge decken, wie auch die Herausgeber betonen, bei weitem nicht alle betroffenen ethnischen und religiösen Gruppen ab. Zu einigen Themenbereichen seien in jüngster Zeit bereits Untersuchungen erschienen, sodass man sie hier nicht noch einmal aufgegriffen habe, vieles sei aber auch noch gar nicht erforscht. Aufgrund der breiten thematischen Streuung kann es nicht verwundern, dass das Kompendium lediglich Schlaglichter auf den Forschungsgegenstand wirft.
Der Band bietet drei Schwerpunkte in grob chronologischer Reihenfolge: Drei Studien sind dem Ersten Weltkrieg und der Zwischenkriegszeit gewidmet. Es folgen zwei Aufsätze zur Bevölkerungsverschiebung in der Region Klaipėda von der Nachkriegszeit bis 1960. Fünf Beiträge stellen den Zweiten Weltkrieg und die Folgejahre in den Fokus.
Thematisch eng miteinander verbunden sind die ersten beiden Untersuchungen zum Ersten Weltkrieg. Andrea Griffante beleuchtet die Rolle litauischer Hilfskomitees für den Nationsbildungsprozess 1914-1920. Das Ziel der maßgeblichen Organisationen, aus der bäuerlich geprägten litauischen Bevölkerung eine Mittelklasse zu schaffen, wird vielfältig belegt und das Vorgehen anhand zahlreicher Beispiele illustriert. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt auf den Organisationen im Besatzungsgebiet Ober-Ost. Demgegenüber fokussiert Balkelis die von litauischen Flüchtlingen bzw. deren Eliten in Russland geschaffenen Organisationen, ihre Vernetzung und ihr Hinwirken auf die Herausbildung einer "Moral-Gemeinschaft". Klaus Richter widmet seinen Beitrag den Folgen der Um-gruppierung von zunächst an ihrem Wohnort verbliebenen Bevölkerungsgruppen durch Grenzverschiebungen. Die jeweils Herrschenden bewerteten die ethnischen und religiösen Bevölkerungsgruppen hinsichtlich ihrer Nutzbarkeit. Die auf dieser Grundlage gesetzten Rahmenbedingungen standen in Wechselwirkung mit den von der Zivilbevölkerung entwickelten wirtschaftlichen Überlebensstrategien.
Im ersten Beitrag zum zweiten, der Region Klaipėda gewidmeten Teil untersucht Vasilius Safronovas die Einflüsse von Herrschaftswechseln auf die Identität der Einwohnerschaft. Er befasst sich dabei mit den Jahren 1919 bis 1960. Ruth Leiserowitz legt, aufbauend auf einen Abriss der wechselnden politischen Zugehörigkeit der Region, den Schwerpunkt ihrer Studie auf die mentalen Dispositionen der Einwohner mit deutschen Wurzeln, die auch darüber entschieden, ob sie emigrierten oder blieben.
Den thematischen Block zum Zweiten Weltkrieg leitet Theodore R. Weeks mit einem chronologischen Abriss der Bevölkerungsumschichtung in der Stadt Vilnius 1939-1949 ein. Dabei wird die gegenseitige Wahrnehmung der jüdischen, polnischen und litauischen Einwohner vor und in den Kriegsjahren fokussiert, bevor nach dem Genozid durch die Nationalsozialisten und die spätere "Repatriierung" der polnischen Bevölkerung eine im Großen und Ganzen ethnisch homogene Stadt geschaffen wurde. Vitalija Stravinskienė widmet sich in ihrem gut recherchierten Beitrag der Repatriierung der polnischen Bevölkerung aus Litauen in den Jahren 1944-1947. Dabei gelingt ihr eine Analyse der Prozesse im Spannungsfeld zwischen sowjetischen Direktiven und regionalen Besonderheiten. Mit den 1941 von den Sowjets deportierten Juden widmet sich Davoliutė einer bis dato kaum untersuchten Opfergruppe, wobei sie sich primär auf Interviews stützt. Der Beitrag von Arunas Streikus beschäftigt sich mit dem religiösen Leben im Litauen der Nachkriegszeit. Er stellt dar, wie sich entsprechende Erfahrungen während der Verbannung bzw. der Umschichtung der Bevölkerung in den Regionen Vilnius und Klaipėda bis 1960 auswirkten. Der Beitrag von Daiva Dapkutė über im letzten Kriegsjahr nach Westen emigrierte Litauer und deren Bezüge zum Heimatland beschließt den Sammelband.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass einzig eine räumliche und eine zeitliche Klammer diese Sammlung thematisch äußerst unterschiedlicher Beiträge zusammenhalten. Auch führt der erfahrungsgeschichtliche Ansatz (4) nicht zu einer deutlichen methodischen Schnittmenge zwischen den Einzelbeiträgen. Liegt das Verdienst einiger Aufsätze primär in der Aufarbeitung der vielsprachigen Sekundärliteratur, so steht in anderen die Analyse unterschiedlicher Archivmaterialen im Mittelpunkt. Am ehesten ergänzen sich die ersten beiden Untersuchungen zum Ersten Weltkrieg zu einer Gesamtbetrachtung von Einflüssen, die die litauische Nationsbildung prägten. Explizite Verknüpfungen zwischen den Analysen zum Zweiten Weltkrieg mit denjenigen zu vorangegangenen Entwicklungen werden kaum hergestellt. Das Verdienst des Bandes liegt somit, neben der Präsentation von Beiträgen zu bisher wenig oder gar nicht betrachteten Untersuchungsgegenständen, vor allem darin, die Notwendigkeit von umfassenderen Langzeitstudien zu veranschaulichen.
Christiane Topp