Franziska Meifort: Ralf Dahrendorf. Eine Biographie, München: C.H.Beck 2017, 477 S., 24 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-71397-2, EUR 38,00
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Ralf Dahrendorf nannte seine Memoiren "Über Grenzen" (2002). Viel besser hätte er den Titel kaum wählen können, um sein vielfältiges Wirken auf eine knappe Formel zu bringen. Er war ein Wanderer zwischen den Welten, ob zwischen Deutschland und Großbritannien, zwischen einer fachlich klar konturierten Soziologie und einer auf öffentliche Kritik gerichteten Zeitdiagnostik, zwischen Wissenschaft, Politik und Wissenschaftsmanagement, aber zeitweise auch zwischen sozialdemokratischen Positionen, an deren Gestaltung sein Vater Gustav kräftig mitgewirkt hatte, und liberalen Überzeugungen. Letztere verfestigten sich beim 2009 verstorbenen Ralf Dahrendorf mit der Zeit und verbanden sich mit dem Wunsch nach öffentlicher Intervention ohne strikte Parteibindung. Dies brachte ihm die Kennzeichnung als liberaler Intellektueller ein, die ihn in der Tat besonders treffend charakterisiert.
In der Intensität schwankend bezeichnete die Intellektuellenrolle über die Gesamtzeit seines Lebens hinweg wohl die wichtigste Konstante. Reduzieren lässt sich diese Jahrhundertgestalt aber nicht darauf, und es sind die Szenen- und Rollenwechsel, die er vollzog, die seine Biographie so reizvoll erscheinen lassen. Franziska Meifort hat sich der Aufgabe ihrer Rekonstruktion gestellt und nur acht Jahre nach Dahrendorfs Tod eine gründliche, höchst lesenswerte Darstellung vorgelegt, die lange Bestand haben dürfte. Die Studie, eine geschichtswissenschaftliche Dissertation an der FU Berlin, ist methodisch reflektiert und beruht auf einem ausgiebigen (Archiv-)Quellenstudium. Die wissenschaftlich geschulte Leserschaft kann darüber einiges im "Nachwort zur Methode" (ab 320) erfahren: über Forschungsstand, Fragen der Biographik, den Intellektuellenbegriff und den Nachlass Dahrendorfs, an deren Erschließung im Koblenzer Bundesarchiv die Autorin maßgeblich mitgewirkt hat und zu dem sie einen "exklusiven Zugang" (15) besaß.
Wer auf heuristisch-methodologische Nebengeräusche lieber verzichtet, der kann die Lektüre einfach auf die chronologisch angelegte Lebensgeschichte reduzieren. Auch ohne den Methodennachklapp ist eine Arbeit zu erkennen, die wissenschaftlichen Ansprüchen vollauf genügt und dazu noch gut lesbar ist. Sie zerfällt - neben Einleitung und Fazit - in sechs Großkapitel, die den zeitlichen Ablauf mit gleichsam leichter Hand entlang sachlicher Schwerpunkte strukturieren. Das erste Kapitel zu den Jahren 1929 bis 1954 lässt Prägungen des ebenso sozialdemokratischen wie bürgerlichen Elternhauses erkennen. Vor allem aber thematisiert es die frühe Konfrontation des Mitglieds im "Freiheitsverband Höherer Schüler" mit der NS-Diktatur, die ihm im Winter 1944/45 vier Wochen Haft in einem Arbeitserziehungslager einbrachte. Nach dem Krieg durch den sowjetischen Geheimdienst bedroht, siedelte die Familie von Berlin nach Hamburg um. Bei Dahrendorf verfestigte sich so schon früh eine tiefsitzende Aversion gegen totalitäre Bestrebungen. Hinzu trat eine "positive Westerfahrung" (302) im Zusammenspiel mit amerikanischen wie britischen Besatzungsoffizieren und dann während zweier Studienaufenthalte am Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre in Großbritannien und den Vereinigten Staaten.
Nach doppelter Promotion, zunächst an der Universität Hamburg und wenig später an der London School of Economics and Political Science (LSE), setzte Dahrendorf neben ersten journalistischen Gehversuchen ganz auf eine akademische Karriere. Das zweite Kapitel zeichnet den "Weg zur Professur" zwischen 1954 und 1960 nach. Der begann mit einer kleinen Einkerbung, als Dahrendorf nach nur einmonatiger Anstellung das Frankfurter Institut für Sozialforschung wieder verließ, um an der erst 1948 gegründeten Universität in Saarbrücken die Habilitation anzustreben. Es blieb in Frankfurt lediglich bei einem Intermezzo, weil Dahrendorf rasch erkannte, dass Max Horkheimer in einem Maße Zuarbeiten verlangte, das dem aufstrebenden, ehrgeizigen Nachwuchsmann nicht passte. Das war ein riskanter Schritt. Im Rückblick sollte sich jedoch zeigen, wie richtig Dahrendorf alles gemacht hatte: Schon mit 29 Jahren wurde er zum Professor an der Akademie für Gemeinwirtschaft in Hamburg berufen. Stupender Fleiß, blitzende Intelligenz und wohlwollende Förderer - insbesondere Helmut Schelsky und der klassische Philologe Ernst Zinn sind zu nennen - hatten wesentlichen Anteil daran, dass Ralf Dahrendorf in atemberaubendem Tempo zum "Herrn Professor" (93) avancierte.
Zinn, nach den Stationen Hamburg und Saarbrücken mittlerweile Ordinarius in Tübingen, lockte Dahrendorf ebenfalls dorthin. Während der Tübinger Jahre entwickelte sich dieser zunehmend zum "öffentlichen Professor", dem das dritte Kapitel über die Jahre 1960 bis 1967 gewidmet ist. Die 1960er Jahre präsentierten sich überhaupt als eine Art Achsenzeit in Dahrendorfs Wirken: In jenem Jahrzehnt entdeckte er seinen Wunsch nach Wirkung als öffentlicher Intellektueller, engagierte er sich verstärkt als Bildungsreformer ("Bildung ist Bürgerrecht") und veröffentlichte sein bis heute wohl wichtigstes, meist zitiertes Buch "Gesellschaft und Demokratie in Deutschland". Es ist ein für Dahrendorf typisches Werk, das den akademisch gebildeten Zeitdiagnostiker erkennen lässt, der breit argumentiert und starke Thesen formuliert, statt im empirischen Kleinklein zu verharren oder abstrakte Theorien zu entwerfen. Im konkreten Fall dieses Bestsellers aus dem Jahr 1965 verfasste er ein Plädoyer für eine liberal-pluralistisch gestaltete Konfliktdemokratie und warnte vor Harmonie, Synthese und Einheit, die - ungeachtet ihres Wohlklangs - in Deutschland den Gang in die Diktatur befördert hätten.
In jener Zeit nahm Dahrendorf zugleich Abschied von seinen genuin wissenschaftlichen Plänen. Er wirkte nun direkt in die Politik hinein, vorrangig in die Hochschulpolitik, als er - im guten Kontakt mit dem damaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Kurt Georg Kiesinger - einen Hochschulgesamtplan für das süddeutsche Bundesland entwickelte und die Universität Konstanz, an der er fortan wirken sollte, mit zu begründen half. Er fand Gefallen an solcher Einflussnahme und wechselte ab dem letzten Drittel der 1960er (bis etwa Mitte der 1970er Jahre) unmittelbar in die Politik, stieg vom "Hoffnungsträger der FDP" (146) zum Parlamentarischen Staatssekretär im Auswärtigen Amt und EG-Kommissar auf. Während jener Phase, die Franziska Meifort eingehend im vierten Kapitel schildert, brachen allerdings vermehrt Rollenkonflikte auf. Die Reibungen zwischen dem "politischen Alltagsgeschäft" und dem "intellektuellen Anspruch" (183) nahmen zu und kulminierten in jenem Moment, als der hohe europäische Politiker unter dem Pseudonym "Wieland Europa" in der Wochenzeitung "Die Zeit", die zu seinem wichtigsten publizistischen Sprachrohr wurde, scharfe Kritik am Zustand der Europäischen Gemeinschaft übte.
An einem erzwungenen Rücktritt kam er damals nochmals knapp vorbei, doch erkannte Dahrendorf selbst, dass er als Professor und Intellektueller weder zur Unterordnung noch zur Beachtung von Denkrestriktionen geschaffen war. Im Jahr 1974 übernahm er für mehr als zehn Jahre den Direktorenposten an der LSE, der er sich seit Studienzeiten auch emotional eng verbunden fühlte. Dieser Posten war ideal für ihn: Es war eine Stellung mit politischem Einfluss und hoher Reputation, nahe an der Wissenschaft und doch entfernt von ihren kleinteiligen Laboratorien, mit allen Freiheiten des intellektuellen Tuns, ohne institutionelle oder parteipolitische Grenzen streng im Blick haben zu müssen. So gelang es Dahrendorf in jener Periode, von der das fünfte Kapitel handelt, sich auch in Großbritannien an führender Stelle - ob in den großen Zeitungen oder bei der BBC - als öffentlicher Kommentator der Zeitläufte zu positionieren. Diese Tradition setzte er in späteren Jahren als Warden des Oxforder St. Antony's College und als Lord mit Sitz im Oberhaus fort, wovon das sechste Kapitel eingehend berichtet. Er fungierte ab den 1970er Jahren zugleich als deutsch-britischer Brückenbauer und "Cultural broker". Ganz auf westlich-liberale Wertemodelle ausgerichtet, blickte er im Übrigen, beeinflusst von seinem engen Kollegen und Freund Timothy Garton Ash, frühzeitiger als andere intellektuelle Mitstreiter offen und hoffnungsfroh auf die politischen Umbrüche im Osten Europas in den späten 1980er Jahren. Mit Edmund Burke als Vorbild schrieb er 1990 seine "Betrachtungen über die Revolution in Europa". Dahrendorf nannte sich bisweilen selbst einen Linksintellektuellen. Allein der Bezug auf den gediegenen konservativen Vordenker Burke, aber auch die Bewunderung für Karl R. Popper ließen indes erkennen, wie schwer ihm ein solches Etikett anzuheften war. Er entzog sich simplen Zuordnungen: Sinnbildlichen Ausdruck fand dies auch, als "Baron Dahrendorf, of Clare Market in the City of Westminster" ab 2004 auf den "Cross Benches" im House of Lords platznahm, auf jenen Bänken also, die einer eindeutigen Zuordnung widerstrebten und quer zu Oppositions- und Regierungsflügeln verliefen.
Wenige Wochen vor seinem Tod bezeichnete sich Dahrendorf in einer letzten öffentlichen Rede als "straddler", als jemanden, der "rittlings auf der Grenze zwischen Geist und Tat" sitzt (300). Unter dieses Motto stellt Franziska Meifort ihr Fazit, in dem sie Ralf Dahrendorf als "Intellektuellen in vielen Rollen" begreift (301). In pointierter Form fasst sie nochmals frühe, auch generationelle Prägungen und individuelle Erfahrungen zusammen, benennt Förderer und Netzwerke in Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Medien, würdigt seine große Analysefähigkeit ebenso wie sein erhebliches sprachliches Kapital, benennt Rollenkonflikte und kennzeichnet ihn als transnationalen und liberalen Intellektuellen, der bewusst "keine eigene Großtheorie" entwarf, dessen Denken aber einige "Fixsterne" besaß: so seine Konflikttheorie gegen autoritäre Gesellschaftsstrukturen, eine Bevorzugung von Reformen gegenüber revolutionären Umschwüngen und die Hochschätzung einer mit "demokratischen Artikulationsmöglichkeiten" gepaarten "staatsbürgerlichen Verantwortung" (316).
Franziska Meifort ist eine Maßstab setzende politische und intellektuelle Biographie gelungen, die sich einem kontextualisierenden Ansatz der Intellectual History verpflichtet weiß. Wer unbedingt etwas an dieser Arbeit monieren will, könnte dreierlei einwenden: Die Autorin hält sich, erstens, Dahrendorf gegenüber mit Kritik zurück, übt diese gelegentlich sanft und lässt Sympathie dominieren. Zweitens verzichtet sie auf eine genuin wissenschafts- und theoriegeschichtliche Würdigung. So bleibt die Frage ein Stück weit unbeantwortet, ob Dahrendorf das Zeug dazu hat, zu den Klassikern der Soziologie aufzusteigen und mit einer Werkausgabe gewürdigt zu werden. Hier lässt die Autorin eher Skepsis erkennen, eine Skepsis, die Dahrendorf selbst gelegentlich in seinen autobiographischen Notizen andeutete. Drittens schließlich ist wenig über den privaten Dahrendorf zu lesen, wenngleich Franziska Meifort in kurzen und prägnanten Passagen über seine drei Ehen informiert, die ihn gestärkt und gestützt und manchmal geschwächt haben.
Vom Rückzug ins Private erfahren wir in dieser Biographie wenig, und das ist auch in der Sache gerechtfertigt. Als Ralf Dahrendorf 2006 seine letzte Monographie "Versuchungen der Unfreiheit" über jene für ihn vorbildhaften Intellektuellen verfasste, die totalitären Verführungen widerstanden und westliche Freiheitswerte hochhielten, war darin ein Stück Autobiographie zu erkennen. Doch ein "'Ich'-Buch" (297), so schrieb er Garton Ash, wollte er unbedingt vermeiden. Das lag auch daran, dass er "Privatintellektuelle" für einen "Widerspruch in sich" hielt (298). In seiner öffentlichen Paraderolle des intellektuellen Zeitkritikers, die durch Meiforts Biographie genauestens ausgeleuchtet wird, war er ganz bei sich selbst.
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