Oliver Grau (ed.): Museum and Archive on the Move. Changing Cultural Institutions in the Digital Era, Berlin: De Gruyter 2017, 316 S., 35 Farb-, 40 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-052051-4, EUR 39,95
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Oliver Grau, Professor und Leiter des Instituts für Bildwissenschaften der Danube Universität in Krems, Österreich, legt mit Viola Rühse und Wendy Jo Coones, beide ebenfalls an der Einrichtung tätig, einen knapp 300-seitigen Sammelband vor, der aus insgesamt 17 sehr unterschiedlichen Perspektiven den weltweit stattfindenden digitalen Wandel der Institutionen Museum und Archiv in den Fokus rücken will.
In ihrer Einführung entwerfen sie nach angedeutetem historischen Rekurs ein kursorisches Panorama des rasanten gegenwärtigen Wandels. Analog zur 'Wunderkammer', dem agilen, private Exponate ständig neu zusammenstellenden Vorläufer des öffentlichen, bald erstarrten Museums, kehre derzeit die aktive Komponente in die Museumspraxis zurück. Es erweiterten sich nicht nur die Methoden, Exponate zu präsentieren, es wären auch ganz neue, nämlich digitale Kunstformen überhaupt erst aufzunehmen und zu bewahren. Archive könnten über die physische Akkumulation von historischen Dokumenten hinaus diese zukünftig über Datenbanken oder andere Technologien auf vielfältige Weisen verknüpfen, wobei sich auch die Frage stelle, wer die archivierte und verknüpfte Fülle an Informationen kontrolliere und missbräuchlicher Nutzung vorbeuge. Vermehrte Interaktion zwischen Disziplinen, Kulturen und Individuen machten Museen und Archive zu interdisziplinären Orten der Kommunikation. Als Schnittstellen zwischen kultureller Produktion, dem Schutz des kulturellen Erbes, gesellschaftlichen Anforderungen und der Verpflichtung gegenüber den Besucherinnen und Besuchern ständen sie vor neuen Herausforderungen. Digitale Technologien könnten den Museums- und Archivlandschaften strukturverändernde Impulse geben und wieder mehr Partizipation der Nutzer und Nutzerinnen zulassen.
Jorge Wagensberg stellt das museologische Konzept der neuen, 2019 öffnenden Eremitage-Außenstelle in Barcelona vor, das Kunst und Wissenschaft, Intuition und Verstehen verknüpfe. Dem Autor zufolge werde durch Interaktion von wissenschaftlichem Verständnis und künstlerischer Intuition menschliche Kreativität angeregt. Viola Rühse erörtert am Exempel des Rijksmuseums in Amsterdam die Kommerzialisierung von Museen und deren touristische Rolle. 2012 ging das innovative Rijksstudio des Museums online, eine copyrightfreie weitgehend erläuterungsfreie Digital Collection von mehr als 100.000 Werken in hoher Auflösung, die es Usern und Userrinnen auch ermöglicht, 'eigene' Kunstsammlungen zu publizieren. Dieter Bogner richtet das Augenmerk auf Bewegung sowohl der Besucher und Besucherinnen sowie von Exponaten in Museen, während Erkki Huhtamo von ungeschriebenen Konventionen des Museumsbesuchs ausgehend sein Konzept der 'Ausstellungsanthropologie' entwickelt. Formate des interaktiven Films präsentiert typologisiert Ryszard W. Kluszczyńsky, angefangen von in der Zeitdimension noch linearen Werken wie Videoinstallationen seit den 1960er-Jahren bis hin zu interaktiven, nichtlinearen, flüchtigen und auch örtlich nicht mehr fixierbaren Werken der Gegenwart. Den Aspekt der Bewahrung flüchtiger Objekte bearbeitet Oliver Grau, indem er pragmatische Vorschläge zur Kategorisierung und Speicherung digitaler Kunst unterbreitet, die eher auf Festivals als in Museen gezeigt werde und in Datenbanken zu sichern sei, damit sie nicht verloren gehe. Youngjin Lee stellt Entstehung und Entwicklung des 'Asian Culture Complex' vor, getragen von fünf Institutionen, die die Entdeckung, Sammlung und Erforschung des asiatischen Kulturerbes koordinieren und ideenreich im kulturellen Bereich vermarkten. Okwui Enwezor führt auf den afrikanischen Kontinent, indem er die Installation 'Museum of Contemporary African Art' des Beniner Künstlers Meschac Gabam als kritischen Diskurs reflektiert und davon ausgehend versucht, die Bedeutung von Museologie und Archivierung für Afrikas Beziehung zur Moderne herauszustellen. Im letzten 'musealen' Beitrag beschreibt Wendy Jo Coones historische und museale Auseinandersetzung mit dem Planeten Mars, dessen Aura sich durch Forschung und Entdeckungen immer wieder verändere. Lege man ein erweitertes Museumskonzept zugrunde, ließen sich derartige Recherchen als Besuch eines Mars-Museums begreifen, der den Mars jeweils neu definiere, verorte und auratisiere.
In das zweite Themenspektrum führt Sean Cubitt ein mit dem gewiss originellen Ansatz, das Archiv im Kontext eudämonistischer Kategorisierung als Mittler zwischen Mensch und Umwelt sowie Individuum und Politik zur Produktion von Glück und Sinnerfüllung neu zu erfinden. Mit seinem analog angelegten Rückblick auf die Ausstellung "Les Immatériaux" (1985) im Centre Pompidou in Paris erinnert Andreas Brockmann an die damals realisierte Integration von künstlerischen, philosophischen und wissenschaftlichen Diskursen des 20. Jahrhunderts. Christine Paul widmet sich wieder den Herausforderungen, die digitale Kunst für Kunstmarkt, Museen und Archive produziere, wenn es um ihre Präsentation, Sammlung und Archivierung geht. Morten Søndergaard konkretisiert am Beispiel des Archivs des Museums für zeitgenössische Kunst in Roskilde ein Kernproblem der Archivierung von digitaler Kunst: Das (Träger-)Medium sei bereits veraltet, noch bevor das Kunstwerk archiviert werde. Auch Harald Kraemer verweist darauf, dass die Archivierung digitaler Kunst nicht parallel zum technischen Fortschritt verlaufe, weshalb das digitale Kulturerbe der letzten 25 Jahre nur kaum für kommende Generationen zugänglich sein wird. Die Perspektive von Lev Manovich ist umgekehrt, er stellt verschiedene Formen der Digitalisierung von analoger Kunst vor, benennt Optionen und Grenzen der Nutzung digitaler Kunstsammlungen. Sarah Kenderdine und Jeffrey Shaw untersuchen Dokumentationsprozesse, Überlieferung und Reproduktion von kaum fassbarer digitaler Kunst am Beispiel der südchinesischen Hakka-Tradition (Kung Fu), den Riten nach Art des Konfuzius und des Œuvres eines Poeten aus Singapur. Diese Fallstudien liefern unterschiedliche Ansätze, lebende Traditionen zu archivieren. Lutz Engelke und Anja Osswald beschließen den Band mit dem Hinweis darauf, dass Bibliotheken ihr Monopol als Wissens- und Buchsammlungen verloren hätten, da das Internet nicht nur unvergleichliche Speichermöglichkeiten biete, sondern Informationen auch zeit- und ortsungebunden abgerufen werden könnten. Einige Bibliotheken entwickeln sich deshalb zu Orten digitaler Interaktion weiter, indem sie neben Büchern beispielsweise auch digitale Medien und gar 3D-Drucker nutzten.
Diese Hinweise dürften deutlich gemacht haben, dass der Titel des Sammelbandes irreführend ist. Abgesehen von Beiträgen, die überhaupt nicht in das Thema des digitalen Wandels passen, geht es in diesem Sammelband ausschließlich um digitale und digitalisierte Kunst sowie deren Archivierung, oder traditionell formuliert: konservierende Bewahrung in musealen Institutionen im Umbruch. Wer (auch) historischen Museen und (klassische) Archive erwartet hat, wird enttäuscht. Ansonsten liefern die panoramaartig gefächerten, oft kreativen thematischen Ansätze eine instruktive und anregende Lektüre. Das Spektrum der Überlegungen deckt wohl das Feld der gegenwärtigen Herausforderungen für einschlägigere Einrichtungen ab. Eine systematische Bündelung und Formulierung von Folgerungen durch die Herausgeber vermisst man jedoch.
Uwe Danker