Rezension über:

Siglinde Clementi: Körper, Selbst und Melancholie. Die Selbstzeugnisse des Landadeligen Osvaldo Ercole Trapp (1634-1710) (= Selbstzeugnisse der Neuzeit; Bd. 26), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2017, 252 S., ISBN 978-3-412-50889-0, EUR 40,00
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Rezension von:
Martin Scheutz
Institut für Österreichische Geschichtsforschung, Universität Wien
Redaktionelle Betreuung:
Bettina Braun
Empfohlene Zitierweise:
Martin Scheutz: Rezension von: Siglinde Clementi: Körper, Selbst und Melancholie. Die Selbstzeugnisse des Landadeligen Osvaldo Ercole Trapp (1634-1710), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2017, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 9 [15.09.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/09/31197.html


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Siglinde Clementi: Körper, Selbst und Melancholie

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Drei unveröffentlichte, auf Italienisch verfasste Selbstzeugnisse des entmündigten, kranken und finanziell am unteren Rand adeliger Lebensführung angesiedelten Osvaldo Ercole Trapp (1634-1710) bilden das archivalische Grundgerüst des vorliegenden Bandes. Die drei Texte sind bruchstückhaft und von zahlreichen Auslassungen gekennzeichnet und befanden sich lange Zeit im Familienarchiv (heute Südtiroler Landesarchiv) der Trentiner-Tiroler Familie Trapp, die ihren Lebensmittelpunkt im Bereich Caldonazzo besaß. Osvaldo Ercole Trapp erlangte mit 25 Jahren die Volljährigkeit, wurde 1669 vermutlich aufgrund von mangelhafter Führung seiner Gerichtsherrschaft entmündigt und unter das Kuratel seines Cousins gestellt - bis 1710 lebte er unverheiratet mit einer jährlichen Apanage von 600 Gulden teilweise in Caldonazzo und teilweise in Trient.

Bei den drei Selbstzeugnissen handelt es sich um folgende Texte: 1. In einer mit 1686 datierten, zwölfseitigen Körperbeschreibung ("Memoria della educatione Vitta dell illmo Sign. B. Osbaldo") vermisst sich der damals zweiundfünfzigjährige Autor selbst, indem er seinen Körper beginnend mit dem Kopf und dem Gesicht bis zu den Füßen beschreibt, wobei der Text aus der Sicht des Autors den Verfall seiner mentalen, physischen und psychischen Körperkraft minutiös verzeichnet (28-34). 2. Die sechsundsechzig Seiten umfassenden autobiographischen Schriften wurden nicht als durchgehender Text konzipiert, sondern dienen als "Erklärung seines körperlichen Zustandes" (35) - die Schlaflosigkeit des Autors erweist sich dabei als einer der Erzählstränge. Ausgehend von seiner eigenen Zeugung und dem frühen Tod des Vaters Osvaldo Trapp (1568-1641) wird die harte physische und einschüchternde Erziehung durch die Mutter - Maria Anna von Thun (1603-1656) - ab dem elften Lebensjahr geschildert, weiter die Zeit der Krankheiten, Ercoles Gemütszustand, seine epileptischen Anfälle, seine Zeit bei einer unpässlichen Amme und der anhaltende körperliche Verfall. 3. Die aus acht Seiten bestehende Chronik des Hauses Caldonazzo aus dem Jahr 1706 schildert die Eckdaten der Familiengeschichte, aber auch die prekären Verhältnisse und den Kampf der Mutter, die hochverschuldete Herrschaft gegen den Widerstand der überlebenden Brüder aus der Familie Trapp zu halten, oder etwa die Entmündigung Ercoles. Die drei Texte stecken den Rahmen der folgenden Interpretation ab: schwierigste finanzielle Verhältnisse, ein um Deutungshoheit seines Lebens, seiner zahlreichen Krankheiten, aber auch des aussterbenden Zweiges seiner Familie bemühter, entmündigter Autor - ungewöhnliche Themen einer prekären Familiengeschichte und Zeugnisse eines Abstieges. Die Selbstzeugnisse des Melancholikers und Außenseiters Osvaldo Ercole Trapp lassen sich "als extremer Versuch eines gescheiterten Adeligen" verstehen, "sich trotz seines Scheiterns und seiner extrem eingeschränkten Ausdrucksmöglichkeiten in die adelige Familienmemoria einzuschreiben" (59).

Die an der Freien Universität Bozen Geschlechtergeschichte behandelnde Autorin nähert sich dem disparaten Thema einer adeligen Selbstbehauptung gegen den Abstieg - aus der Sicht der Adelsgeschichte insgesamt ein wenig erforschter Bereich - in mehreren Schritten: Aus einer klassisch sozialgeschichtlichen Perspektive werden die Geschichte der in zwei Linien geteilten Tiroler Familie Trapp ("Auszeigung"/Erbschaftsregelung 1558) am Südrand des Landes Tirol, der Konkurs des Hauses Besone-Caldonazzo und der heroische Kampf von Maria Anna von Thun um Erbe und Selbstbestimmung, die Ausbildung Ercoles als Page am Innsbrucker Hof, die Vormundschaft des Onkels über Ercole und seine Entmündigung 1669 dargestellt. Die Region des südlichen Tirol war eine Übergangszone zwischen deutscher und italienischer Rechtstradition: Der patrilineare Kernbesitz sollte ungeteilt unter den Brüdern und gegen Besitzansprüche der Schwestern geschützt werden, Erbansprüche der Witwen wurden deshalb - höchst konfliktreich - von den überlebenden Brüdern Trapp bestritten, man suchte die Witwe nach norditalienischer Tradition in ihre Herkunftsfamilie zurückzudrängen.

Aus der Sicht der Selbstzeugnisforschung erscheint der dritte Teil des Bandes am interessantesten: Konzepte der Männlichkeit von Ercole Trapp, sein von der Humoralpathologie geprägtes Körperbild, das Konzept der Melancholie und Zeugungstheorien werden am Beispiel der drei Selbstzeugnisse aufgezeigt. Ercoles Leben erscheint von spezifischen Männlichkeitsvorstellungen geprägt: als nichtverheirateter Mann, als "schutzloses Mündel", als entmündigter Haushaltsvorstand ohne Haus und als Halbwaise. Nach Ausweis seiner "beseelten", nach Art der hippokratisch-galenischen Säftelehre organisierten Körperbeschreibung hatten die fluiden "passioni" (Leidenschaften) seinen Körper in Unordnung gebracht und das Gleichgewicht von Seele und Körper nachhaltig beeinträchtigt. Die fehlende Wärme des Magens aufgrund der Umwickelungen der Brust im Kindesalter habe zu viel Feuchtigkeit und unreine Stoffe im Körper erzeugt. Siglinde Clementi interpretiert die Selbstzeugnisse des Osvaldo Ercole Trapp überzeugend als Ausdruck eines Scheiterns am eigenen Körper, an der eigenen Biographie und an der Hausgeschichte (193).

Das Buch bemüht sich mit großem Nachdruck die mitunter rätselhaften Aussagen der drei Texte in der Sozial-, Medizin-, Geschlechter- und Körpergeschichte der Frühen Neuzeit zu verorten - kein einfaches Unterfangen, weil die enigmatischen und bruchstückhaften Texte prinzipiell Interpretationen nach verschiedenen Richtungen zulassen. Nach meinem Leseeindruck erscheint vor allem bleibend, die Selbstzeugnisse eines in prekären gesundheitlichen, sozialen und psychischen Verhältnissen Lebenden gut und breit für die Forschung zugänglich gemacht und gekonnt in verschiedene Forschungskontexte eingeordnet zu haben. Der mit viel Selbstmitleid ausgestattete Tiroler Adelige Osvaldo Ercole Trapp versteckte die Brüche seines Lebens nicht, sondern inszenierte im Gegenteil das vielfältige Scheitern seines Lebens in seinen Texten nach Art eines griechischen Dramas neu.

Martin Scheutz