Rezension über:

Michael Haben: Berliner Wohnungsbau 1933-1945. Mehrfamilienhäuser, Wohnanlagen und Siedlungsvorhaben (= Die Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin; Beiheft 39), Berlin: Gebr. Mann Verlag 2017, 871 S., 53 Farb-, 680 s/w-Abb., 45 Tbl., ISBN 978-3-7861-2786-4, EUR 119,00
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Rezension von:
Ulrich Hartung
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Oliver Sukrow
Empfohlene Zitierweise:
Ulrich Hartung: Rezension von: Michael Haben: Berliner Wohnungsbau 1933-1945. Mehrfamilienhäuser, Wohnanlagen und Siedlungsvorhaben, Berlin: Gebr. Mann Verlag 2017, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 10 [15.10.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/10/31592.html


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Michael Haben: Berliner Wohnungsbau 1933-1945

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Der Massenwohnungsbau der Nazizeit ist bislang kaum erforscht worden. Das liegt offenbar daran, dass er als Objekt einer rigorosen Einsparungspolitik betrachtet wurde - mit seinen Kleinhaussiedlungen und "Volkswohnungen" ließ er Innovationen vermissen, wie sie den Siedlungen der Moderne aus der Zeit der Weimarer Republik ihre internationale Geltung verschafften. Das Buch von Michael Haben über den Berliner Wohnungsbau bestätigt durchaus diese Bewertungen. Es klärt zugleich eine Fülle von Einzelfragen und erläutert wesentliche Wechselbeziehungen zwischen Baupolitik und Siedlungsgestaltung.

Das gibt dem Werk eine Bedeutung, die über die Spezialforschungen zur Geschichte der "Reichshauptstadt" hinausreicht. Um sie zu würdigen, müssen sich Leserinnen und Leser mit den Kolonnen von Zahlen befreunden, die Haben im Text und in vielen Tabellen anführt. Sein Buch ist zuallererst eine große Bestandsaufnahme des wirklich Gebauten. Dank intensiver Quellenarbeit konnte er 97,1% des relevanten Berliner Bestands (19) erfassen. Das Neue und Bemerkenswerte sind dabei weniger die Zahlen des Neuzugangs von Wohnungen in der NS-Zeit, die mit über 102.000 gegenüber den 173.000 aus den "Weimarer Jahren" (802) relativ respektabel erscheinen; sie lagen im Einzelnen schon dem DDR-Stadtbaudirektor Günter Peters für seine 1985-86 erschienenen Artikel "Zur Baugeschichte Berlins" vor. [1]

Wichtiger ist, dass Haben an der Größe und Aufteilung der Wohnungen nachweist, wie sich die von der Regierung Brüning verordneten Beschränkungen auf den Bau von Kleinstwohnungen und den von Erwerbslosensiedlungen seit 1930 und bis tief in die NS-Zeit hinein auswirkten. Die Nazi-Baupolitiker übernahmen einfach deren äußerst sparsame Förderungsprogramme mit ihren niedrigen Standards (747). Das führte zum Bau von vorstädtischen Kleinsiedlungen mit gereihten Steildach-Häuschen wie auch zum "Weiterbauen im Bestand" und zur Verdichtung der jüngeren Stadtgebiete durch massierte Wohnblocks. Größere Wohnungen für "deutsche Familien" waren im Zuge der Neugestaltung Berlins unter Generalbauinspektor Albert Speer geplant und wurden durch Beihilfen gefördert; doch erst der "Führererlass zur Vorbereitung des deutschen Wohnungsbaues nach dem Krieg" vom 15.11.1940 zeichnete ein ähnlich großzügiges Herangehen an die Wohnungsnot vor wie in der Zeit des Neuen Bauens. Er blieb indes pure Propaganda, und Haben entzieht sich (751) zu Recht allen Spekulationen darüber, wie die neue Wohnbaupolitik in Berlin hätte umgesetzt werden können.

Der Autor hat es verstanden, die Folgen der verschiedenen Spar- und Hilfsprogramme für die Einzel-Aktivitäten der genossenschaftlichen, städtischen und staatlichen Baugesellschaften aufzuzeigen, bis in die Details der Wohnungsausstattungen und des Gestaltungsaufwands hinein. So dokumentiert er anhand der wechselnden Vorgaben der Wohnbaupolitik, von den ersten Einsparungen an modern konzipierten Gebäudegruppen um 1931 bis zu den massenhaft "stillgelegten" Baustellen in den Kriegsjahren, die Entstehungsgeschichte der verschiedenen Siedlungen. Manchen Bau kann er auf diese Weise erst datieren.

So zeigen sich an Habens Buch die großen Erkenntnis-Potentiale der sozialhistorischen Arbeitsweise; es lässt jedoch zugleich deren Grenzen klar erkennen. Die Gesetze und Verordnungen zum Wohnungsbau, die damit befassten Institutionen und ihre Kompetenzstreitigkeiten werden breit dargestellt, aber die ideologischen Ausgangspunkte, die Architekturvorstellungen der Akteure bleiben im Halbdunkel, ebenso die gebauten Resultate, deren Gestaltungsprinzipien kaum systematisch verglichen und analysiert werden.

Dass Haben die Betrachtung mit der Architektur nach den Notverordnungen von 1930ff. beginnt, wie schon ein - nicht erwähntes - Vorgängerwerk zur "Architektur der 30er/40er Jahre in Köln" von 1999, ist legitim, denn es ergibt sich aus der Bedeutung der konservativen Neuausrichtung für die Förder-Richtlinien der folgenden Jahre nach 1933. [2] Aber deren wichtigstes Ergebnis, die Abkehr von den Entwurfsprinzipien der Moderne, wird in den Bemerkungen zu den einzelnen Siedlungen wie auch in der "Schlussbetrachtung" (ab 743) eher verschleiert. Einen "einheitlichen Stilkanon" (746) nach Art eines Lehrbuchs hat es, wie Haben feststellt, anscheinend nicht gegeben - doch lässt sich die Architektur der NS-Siedlungen sehr wohl auf einen Nenner bringen: es entstanden nun Baukörper von geschlossener Form, mit massiven Ecken, relativ kleinen Fenstern und schweren Hauptgesimsen, von Sattel- oder Walmdächern überfangen, eine Rückkehr zu der "Zwangsvorstellung, als müsse das Haus eine Aufgipfelung haben" (Walter Müller-Wulckow). Auch das geradezu zwanghafte Streben der Architekten, vor allem den innerstädtischen Siedlungsblöcken mit der Spiegelsymmetrie der Ehrenhöfe eine räumliche Ordnung zu geben, ist kaum zu übersehen.

Dass sich diese "Mittelteile" mit ihren monumentalen Durchgängen eindeutig an Großbauten für Partei und Staat orientierten, verwundert für sich genommen nicht. Es wird jedoch von Haben fast völlig ausgeblendet, obwohl einige Vorbilder ins Auge fallen, bei Werner Hartings und Wolfgang Werners "Brückenhaus" am Nachtigalplatz im Wedding das Reichsluftfahrtministerium mit dem Trakt an der Leipziger Straße, bei Walter und Johannes Krügers Großwohnblock an der Greifswalder Straße (Bild 772) der von Leonhard Gall entworfene Kanzleibau des Braunen Hauses in München, ebenso das dortige Luftgaukommando von German Bestelmeyer. Vielleicht besteht gerade im Kontrast dieser und ähnlicher Monumental-Motive zu der Einfachheit, ja Primitivität der normalen Gebäudegliederungen ein Spezifikum des Berliner NS-Wohnungsbaus. Einem Autor, der durchaus "beliebte Motive der NS-Architektur" (502) zu erkennen vermag, ist diese Einsicht zuzutrauen - und zuzumuten.

Gleiches gilt für seine Betrachtungen zu den Bauherren und Architekten, die trotz wertvoller Hinweise wichtige Einzelfragen offen lassen. So interessiert, ob der mit einigen von der Moderne beeinflussten Siedlungen (so 313f.) vorgestellte Herbert Richter mit dem Architekten gleichen Namens identisch ist, der zusammen mit dem Arzt Georg Groscurth und dem Dentisten Paul Rentsch als Mitglied der von Robert Havemann geleiteten Widerstandsgruppe "Europäische Union" am 8. Mai 1944 im Zuchthaus Brandenburg-Görden hingerichtet wurde. Auch ist, um ein letztes Beispiel zu bringen, für die langgestreckte Wohnanlage, die Walter Kratz 1938-40 an der Storkower Straße im Bezirk Prenzlauer Berg errichtete (698ff.), nicht der abwegige Vergleich mit Bruno Tauts Häuserzeilen an der Weißenseer Buschallee wichtig gewesen, sondern das persönliche Idol des Architekten, Heinrich Tessenow, im Einklang mit den preußischen Kasernen aus dem 18. Jahrhundert, die Kratz in das Buch "Der Osten" neben der ausführlichen Darstellung seiner Wohnanlage als Vorbilder einfügen ließ. [3]

Sollte sich Michael Haben dem Berliner Wohnungsbau nach dem Krieg und speziell dem im Osten zuwenden, dann sind gewichtige Forschungsergebnisse zu erwarten - wenn er den Gegensatz zwischen sozialhistorischem Arbeitseifer und architekturhistorischer Analyse-Verweigerung aufhebt. Dazu gehört die Befassung mit dem polemischen Wort Walter Ulbrichts vom "Hitlerschen Kasernenbaustil". Es wäre die Frage zu untersuchen, ob diese Charakterisierung der NS-Wohnarchitektur weiterhin als rein ideologisch bewertet werden kann.


Anmerkungen:

[1] Günter Peters: Zur Baugeschichte Berlins. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Berlin 21987, 120.

[2] Hiltrud Kier / Karen Liesenfeld / Horst Matzerath (Hgg.): Architektur der 30er und 40er Jahre in Köln. Materialien zur Baugeschichte im Nationalsozialismus, mit Beiträgen von Kristin Ruschepaul und Regine Schlungbaum-Stehr (= Schriften des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln; Band 5), Köln 1999.

[3] Julius Schulte-Frohlinde / Walter Kratz (Architekturbüro der DAF) / Werner Lindner (Deutscher Heimatbund) (Bearb.): Der Osten (Die landschaftlichen Grundlagen des deutschen Bauschaffens), München o.J. (1940), 134f.

Ulrich Hartung