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Carolin Kosuch: Missratene Söhne. Anarchismus und Sprachkritik im Fin de Siècle (= Schriften des Dubnow-Instituts; Bd. 23), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 390 S., ISBN 978-3-525-37037-7, EUR 70,00
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Rezension von:
Carsten Schapkow
Norman, OK
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Carsten Schapkow: Rezension von: Carolin Kosuch: Missratene Söhne. Anarchismus und Sprachkritik im Fin de Siècle, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 10 [15.10.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/10/31831.html


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Carolin Kosuch: Missratene Söhne

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In ihrem Buch Missratene Söhne unternimmt Carolin Kosuch den Versuch, anhand dreier Persönlichkeiten der deutsch-jüdischen Geistesgeschichte - Fritz Mauthner, Erich Mühsam und Gustav Landauer - das Verhältnis von Anarchismus und Sprachkritik im Fin de Siècle zueinander auszuloten. Das Buch geht zurück auf die an der Universität Leipzig im März 2014 verteidigte Dissertation der Autorin. Als Ausgangspunkt der Studie dient dabei der von Fritz Mauthner in seinem Wörterbuch der Philosophie aus dem Jahre 1910 verwandte Begriff der "Freiheit". Denn genau dieser Begriff war allen drei Autoren zentral für ihr schriftstellerisches und persönliches Selbstverständnis. Darüber hinaus ist er letztendlich auch präziser als der sperrige Terminus Anarchismus (11). In einem ersten biographischen Kapitel, das die "Generationskonflikte als biografische Schlüssel zur Rebellion" gegen die Väter (31-111) einordnet, stellt Kosuch Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Biographien der drei Protagonisten heraus. Das zweite Kapitel geht "Begegnungsengramme[n] im Mikrokosmus der Gegenkultur" (113-207) nach, die schließlich im dritten Kapitel "Auf der Suche nach der 'Neuen Welt'" abschließend eingeordnet werden. Basierend auf einer breiten Grundlage von gedruckten und ungedruckten Quellen gelingt es Kosuch, die Lebenswege der drei Protagonisten dem Leser gewinnbringend vor Augen zu führen. Dabei bietet das Buch insgesamt eine lohnenswerte Lesart auf das von den drei Schriftstellern beschriebene Ideal der Herrschaftslosigkeit im Kontext der autoritären Gesellschaft des Wilhelminismus um die Jahrhundertwende.

Die drei Männer standen in einem unterschiedlich engen Verhältnis zueinander. Der Älteste, Mauthner (1849-1923), war Landauers (1870-1919) Mentor, wobei das gute Verhältnis auch lebenslang von gegenseitiger Konkurrenz geprägt sein sollte. Mühsam (1878-1934) wiederum pflegte einen innigen intellektuellen Austausch mit Landauer, der den Jüngeren als kritische Instanz begleitete. Mit Mauthner war Mühsam hingegen nur bekannt. Allen dreien war eine "Reibungsfläche" (35) mit den jeweiligen Vätern eigen. Aus der Perspektive der Vätergeneration und der Gesellschaft lassen sich die drei Söhne deshalb durchaus treffend als "missraten" charakterisieren. Darauf spielt der Titel des Buches an.

Beginnend mit Mauthner offenbarte sich diese unterschiedliche Erwartungshaltung auch in einer anderen Verwendung von Sprache als die der Väter. Dabei bestanden zwischen Mauthner, Mühsam und Landauer selbst vielschichtige Väterrollen und mannigfaltige Hierarchien, die auch autoritär eingesetzt wurden, zunächst insbesondere bei Landauer gegenüber Mühsam, aber später auch zunehmend gegenüber Mauthner.

Anders als die Vätergeneration, die sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts in einer Aufbruchszeit wähnte, die sie vom Land in die Stadt geführt hatte, waren sich die Söhne bereits der krisenhaften Situation ihrer Gegenwart bewusst. Zudem distanzierten sie sich auch von der Kaufmannstätigkeit ihrer Väter. Diese Distanz charakterisiert Kosuch als ein Generationsphänomen. Dagegen hielten Mauthner, Mühsam und Landauer ein in diesem Sinne anarchistisches Lebensgefühl hoch, das sie unterschiedlich verstanden und auslebten. Anders auch als bei Landauer und Mühsam, die sich dem Anarchismus zuwandten, agierte Mauthner in der politischen Sphäre vorsichtiger. Nichtsdestotrotz beeinflusste seine Sprachkritik Landauer und Mühsam aber nachhaltig. Dies hing zum einem damit zusammen, dass der 1849 geborene Mauthner 21 bzw. 29 Jahre älter als Landauer bzw. Mühsam war und damit eigentlich selbst ihrer Vätergeneration zugerechnet werden könnte. Ferner spielte Mauthners Herkunft als deutscher Jude aus Prag eine entscheidende Rolle in der Ausbildung seiner Sprachkritik. Er entschied sich bewusst, in das von ihm favorisierte Berlin zu ziehen. Damit sprach er sich gegen den aufkommenden Geist des tschechischen Nationalismus in seiner Heimatstadt Prag aus. Mauthners doppelte Außenseiterposition als Jude und österreichischer Staatsbürger in Preußen unterschied sich dadurch von Mühsams und Landauers Sozialisation.

Alle drei verbindet jedoch, dass sie sich gegen einen als starr verstandenen Bildungskanon der Väter auflehnten, der noch auf den Prinzipien der Aufklärung basierte. Die Söhne suchten außerhalb der vorgegebenen Normen nach Freiheit, vor allem jenseits der etablierten Bildungs- und Kulturinstitutionen ohne diesen jedoch ganz entfliehen zu können. Ganz im Gegenteil, wie Kosuch herausstellt: ihnen ging es letztendlich auch um Anerkennung von den Vätern. Dabei hielt Mühsam das Vertrauen der Vätergeneration an die Assimilation für gescheitert. Außerdem erkannte er früher als Landauer und Mauthner die Gefahren des Antisemitismus, blieb jedoch in Erwartung des väterlichen Erbes immer abhängig vom Vater. Die drei Männer sollten nach Jahren in der Metropole Berlin eine Aversion gegen die Großstadt teilen, die Mauthner nach Meersburg am Bodensee, Landauer nach Hermsdorf bei Berlin und Mühsam in das damals noch ländlich anmutende München-Schwabing führen sollte. Dass dabei eine ganze Reihe neuer Lebensentwürfe ausprobiert wurde, stellt Kosuch überzeugend dar. Auch hier erscheint Mühsam als der radikalste der drei, der sich schon früh von Berlin wegbewegte und beispielhaft am Tessiner Monte Verità mit alternativen Lebensweisen experimentierte. Anders als bei Mühsam wirkte bei Mauthner und vielleicht überraschenderweise auch bei Landauer anarchistisches Gedankengut nicht ins Privatleben hinein. Aber auch Mühsam sollte schließlich mit Zenzl Mühsam die Ehe eingehen. Damit erfüllte er sich damit seinen Wunsch nach einem bürgerlichen Leben, das aber dann von der 1919 gegen ihn verhängten Haftstrafe jäh unterbrochen werden sollte.

Bereits vor der Revolution von 1918 markierte der Ausbruch des Ersten Weltkrieges eine "Zäsur" (321) und warf auch die Frage nach der eigenen jüdischen Identität (erneut) auf. Während Landauer und Mühsam, letzterer nach einer anfänglichen patriotischen Phase, den Krieg ablehnten, wähnte Mauthner Deutschland von Feinden attackiert, was beinahe ein dauerhaftes Zerwürfnis zwischen Landauer und Mauthner provozierte.

So ist es faszinierend zu erfahren, wie Freundschaften über Jahrzehnte nichts an Intensivität verloren und wie sehr man am Schreibprozess des jeweilig Anderen vor dem Zusammenspiel von Anarchismus und Sprachkritik kritisch Anteil nahm. In diesem Sinne leistet das Buch einen bedeutenden Beitrag zum Verhältnis von Sprachkritik und Anarchismus sowie zu Freundschaftsnetzwerken im Kaiserreich. Dabei findet die Rolle der (Ehe-)Frauen bei Mauthner, Landauer und Mühsam leider nur geringen Niederschlag, mit Ausnahme von Hedwig Lachmann für Gustav Landauer. Dieser Einwand leistet jedoch dem hohen Erkenntnisgewinn, auch basierend auf der sehr guten Lesbarkeit, dieser innovativen Studie keinen Abbruch.

Carsten Schapkow