Neill Lochery: Out of the Shadows. Portugal from Revolution to the Present Day, London: Bloomsbury 2017, XXII + 361 S., 16 s/w-Abb., ISBN 978-1-4729-3420-8, GBP 25,00
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Von der Befreiung 1974 zur Befreiung 2014: Neill Lochery legt mit "Out of the shadows. Portugal from Revolution to the Present Day" die erste historische Darstellung der jüngsten Geschichte Portugals vor: vom Putsch des 25. April 1974, der die Salazar-Diktatur stürzte, bis zu jenem Tag vor wenigen Jahren, als Portugal stolz verkünden konnte, den EU-Rettungsschirm nicht mehr zu benötigen.
Locherys angenehm lesbare, kurzweilige Studie hat nicht den Anspruch, eine umfassende Zeitgeschichte Portugals zu sein, sondern wählt einen klaren Fokus: Sie interessiert sich in erster Linie für politische Fragen im engeren Sinne - Wahlen, Parlamentsdebatten, Kabinettsbildungen - und das vor allem im internationalen Zusammenhang. Der programmatische Titel "Out of the shadows" bringt die Kernaussage auf den Punkt: Nach über vier Jahrzehnten Diktatur und politischer und wirtschaftlicher Isolierung gelang es dem Land, als NATO- und bald auch EG-Partner anerkannt, zum Musterschüler in Demokratiefragen und in den 1990er Jahren dann zum Gastgeber internationaler politischer, sportlicher und kultureller Großveranstaltungen zu werden.
Differenziert stellt Lochery zunächst dar, wie die junge Demokratie in den 1980er Jahren das Vertrauen internationaler Mächte zurückgewann, während sie gleichzeitig mit sozioökonomischen Problemen im Zuge der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Revolution zu kämpfen hatte. Der Schlüssel zum Erfolg war schließlich der alles andere als unumstrittene EG-Beitritt 1986. Sparauflagen des Internationalen Währungsfonds dämpften die anfängliche Begeisterung der EU-Befürworter - hier hätte man sich einen Vergleich mit der ähnlichen Situation nach 2009 gewünscht. Ab den frühen 1990er Jahren schufen Infrastrukturprogramme neuen Wohlstand, die EG-Präsidentschaft 1992, die Ernennung Lissabons zur Europäischen Kulturhauptstadt 1994, die Expo in Lissabon 1998 und die Ausrichtung der Männer-Fußball-EM 2004 führten Portugal, wenngleich am Rockzipfel der EU, endgültig in den internationalen Reigen ein.
Das Verdienst Locherys liegt dabei vor allem darin, trotz des üblichen Quellenproblems solcher Gegenwartsgeschichten eine stringente, lückenlose Analyse erarbeitet zu haben, deren Hauptargument vielleicht nicht ganz originell, aber überzeugend belegt und diskussionswürdig ist. Insbesondere seine Ausführungen zur nur zögerlich aufkommenden EU-Begeisterung, die zwischen Ablehnung der Beitrittsverhandlungen als Elitenprojekt, Apathie und abwägender Zustimmung changierte, sind gelungen und geben einen Eindruck von der Kontingenz historischer Entwicklung.
Lochery gelang es, Zugriff auf zahlreiche bisher unveröffentlichte Dokumente aus britischen und US-Archiven zu erhalten, teilweise wohl unter Aufhebung der 30-Jahr-Regel. Seine Ausführungen basieren freilich nahezu ausschließlich auf solchen anglo-amerikanischen Diplomatenquellen. Angesichts der schwierigen Quellenlage ist das entschuldbar und sinnvoll, hätte jedoch einer deutlichen Warnung in der Einleitung bedurft. Dass eine Studie zu Portugal auf der Grundlage von Diplomatenberichten und Medienstimmen aus gerade einmal zwei Ländern in ihrer extremen Subjektivität und Bruchstückhaftigkeit kein umfassendes, ja vermutlich nicht einmal ein annähernd wahrhaftiges Bild zeichnen kann, steht außer Frage. Da hätte man sich mehr methodische Sorgfalt gewünscht.
Zudem ist die fehlende Berücksichtigung der durchaus vorhandenen, freilich größtenteils portugiesischsprachigen Sekundärliteratur zu bedauern, die trotz ausführlichem Literaturverzeichnis in den Fußnoten so gut wie gar nicht vorkommt. Die allmählich dichter werdende Forschung zur Frage der "retornados", der Immigranten aus den ehemaligen Kolonien ab 1975, etwa findet keine Erwähnung, sodass dieses Thema, wie viele andere, in Klischees erstarrt (16-18). So mitreißend Locherys Stil mit seinen Cliffhangern und Wortspielen auch ist, geht ihm bisweilen die kritisch-analytische Distanz abhanden: Gemeinplätze wie "the [1974] coup went like clockwork" (4), "the oldest ally" Großbritannien (XIX), "the Portuguese-Spanish rivalry" (98), gefährlich tendenziöse oder pauschalisierende Wendungen wie "Portugal lost Africa" (278) oder "totalitarian communists" (276), sowie die inflationäre Charakterisierung einer Sache (Hauptstadt, Landwirtschaft, Dekolonisierung, Staat generell) als "(total) mess" (16, 61, 39, XXI) stören. Interessante Gedanken, wie etwa der, dass die massive Einmischung internationaler Großmächte dem Land nicht immer unbedingt guttat (XXI), bleiben in der Luft hängen und werden nicht ausgeführt oder aufgegriffen.
Hinzu kommen inhaltliche Schwächen. In der Forschung zur Kolonialgeschichte Portugals ist die internationale Komponente der portugiesischen Kolonialpolitik als pseudo-antikommunistisches Bollwerk, der Kolonialkriege als Stellvertreterkriege und des Unabhängigkeitsprozesses als gescheiterter, ja fataler Versuch internationaler Einflussnahme inzwischen ein zentrales Argument. Deshalb überrascht die völlige Ausblendung der kolonialen Vergangenheit (bis auf Erwähnungen auf 18f. und 168) bei Lochery. Sie hätte das leicht entwicklungstheoretische Hauptargument eines Heraustretens Portugals aus dem Schatten völliger Isolierung ins Licht der internationalen Gemeinschaft (Lochery spricht gerne von "moving forward" und "catching up") nuanciert. Die tatsächlich bis ins frühe 21. Jahrhundert nur sehr rudimentäre öffentliche Aufarbeitung dieser Vergangenheit, also das völlige Fehlen der Thematik im portugiesischen öffentlichen Diskurs, entschuldigt dieses Versäumnis nicht, sondern hätte umso mehr einer Erwähnung bedurft.
Das gleiche gilt für das Erbe der Diktatur. Gewiss, kollektives Gedächtnis und historische Aufarbeitung sind nicht Locherys Thema. Doch Hinweise zum Umgang der verschiedenen Kabinette mit der diktatorischen Vergangenheit - zu Amnestien für Schreibtischtäter und Folterknechte, zu personellen Kontinuitäten in Ministerien, Behörden und Schulen oder zur Wahl des Diktators Salazar zum "Größten Portugiesen" in einer TV-Show 2002 - hätten die klar ereignis- und politikhistorische Schwerpunktsetzung ausbalanciert. So aber tritt der Autor in die Falle zeitgenössischer Selbstbilder und einer Regierungspolitik, die mit der schambehafteten Vergangenheit zu brechen suchte, institutionelle und diskursive Kontinuitäten aber billigend hinnahm.
Ein ausführliches Fazit bleibt Lochery schuldig, sein Abschlusskapitel kommt über die Analysekriterien "Erfolg oder Fail" nicht hinaus. Gewiss, ein kritisch einordnender Blick auf kaum Verstrichenes ist äußerst schwierig - genau diese Selbsterkenntnis, explizit formuliert, hätte Locherys Werk aber gutgetan. So aber bleibt es bei einer ebenso nützlichen wie konventionellen Ereignischronologie mit klarem Fokus, rotem Faden und exzellent dokumentiertem internationalen (anglo-amerikanischen) Zusammenhang. Ob es aber wirklich eine gute Idee ist, in einer Untersuchung zu Portugal alle Kapitel mit anglo-amerikanischen Rocksongs zu überschreiben, darüber lässt sich wohl streiten.
Christiane Abele