Matthew S. Champion: The Fullness of Time. Temporalities of the Fifteenth-Century Low Countries, Chicago: University of Chicago Press 2017, XVI + 288 S., eine Kt., 5 Farb-, 32 s/w-Abb., ISBN 978-0-226-51479-6, USD 55,00
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Die Rede von der "Zeit" als Kategorie historischer Analysen erscheint unmittelbar plausibel, in der Praxis zeigt sich jedoch, dass Historiker eine schier unendlich große Menge expliziter und impliziter Zeitkonzepte verwenden. Da wird schnell unklar, was die Rede von der Zeit als Analysekategorie in der historischen Praxis bedeutet.
Unbestritten ist die Renaissance eine Epoche, in der "Zeit" auf vielerlei Weise ausdrücklich zum Thema geworden ist. Damit sind einerseits die vielen Zeugnisse für Subjektivierungen von Zeiterfahrungen gemeint wie auch das Vordringen abstrakter, auch kleinteiliger Zeitmaße und zeitlicher Normierungen. Neben die alten Erörterungen über die Zeit der Welt und die Zeit der Eschatologie treten seit dem 13. Jahrhundert die philosophischen Diskussionen über die Natur der Zeit, die in den Geisteswissenschaften zunehmenden Tendenzen zur Historisierung wie auch die ausdrückliche Thematisierung der Zeit in den Künsten hinzu. [1]
Matthew Champion nimmt diese Entwicklungen in einer exemplarischen Studie zur hoch urbanisierten und kulturell äußerst produktiven Städteregion der Niederlande des 15. Jahrhunderts, v.a. für die Zentren Löwen, Gent und Cambrai, in den Blick. Er untersucht die vielfältigen Zeugnisse für die Wahrnehmung und Darstellung von Zeit, die Reflexion über Zeitprobleme und die komplexen Formen der Ordnung von Zeit und Zeiten in Kunstwerken, in philosophischen Debatten, in theologischen, philosophischen und historischen Texten wie auch in Liturgie, Musik und in zivilen Ritualen. Dabei ist "temporality", was etwa mit Zeitlichkeit bzw. Zeithaftigkeit zu übersetzen ist, zentrale Kategorie seiner Analysen, und unter dem in der Bibel für eine Endzeit gebrauchten Ausdruck "Fülle der Zeit" wird eine große Anzahl sehr heterogener "temporalities" vorgeführt.
Einleitend behandelt Champion die verschiedenen Ebenen städtischer Zeiten in Löwen von der neugegründeten Universität über die liturgischen zu den gewerblichen Zeitordnungen mitsamt der durch Glockenzeichen strukturierten urbanen akustischen Kulisse. Hergebrachte Formen der Zeitgliederung vermischen sich mit neuen. In einer Arbeitszeitordnung des 16. Jahrhunderts wird zwar auf die uralte Gliederung der Jahreszeiten hingewiesen, die neuartige, durchgängige Verwendung von Uhrzeiten bleiben dabei jedoch unbeachtet. Zur Deutung temporaler Bezüge auf dem Abendmahl-Triptychon des Dierick Bouts (1464-67) wird der berühmte Löwener Universitätsdisput über die Möglichkeit über Zukünftiges wahre Aussagen zu machen herangezogen, auch weil ein am Disput beteiligter Professor im Werkvertrag des Künstlers, als Berater (?), erwähnt ist. Die traditionelle Eingangsformel der Vertragsurkunde verbindet Vergangenheit (Auftrag), Gegenwart (Beurkundung) und Zukunft (Fertigstellung und Ratenzahlung). Die zeittypologische Deutung des Bildes wird dann auch in einen Zusammenhang mit der damals noch umstrittenen polyphonen Musik in der Liturgie gebracht. Skeptiker wollten ihre Verwendung auf bestimmte liturgische Zeiten beschränkt wissen.
Selten wird in Erörterungen des vormodernen Zeitbewusstseins die Erfahrung von Rhythmus und musikalischer Zeiterfahrung behandelt. Hier leistet Champion einen interessanten, mit Notenbeispielen unterlegten Beitrag über die affektiven Aspekte polyphoner Musik am Beispiel des einschlägigen Traktats des Gilles Carlier und der musikalischen Aufführungspraxis an der Kathedrale von Cambrai.
Am Beispiel der viel erforschten Beschreibungen des festlichen Einzugs des Burgunderherzogs Philipp des Guten in Gent im April 1458 wird das Ineinander höfischer Zeitlichkeiten, ziviler Ritualzeit und Repräsentationen historischer Zeit geschildert. Die im Festzug mitgeführten Tableaus verbanden den Einzug des Herrschers typologisch mit Jesu Einzug in Jerusalem und verwiesen zugleich eschatologisch auf die zweite Ankunft des Erlösers im Jüngsten Gericht. Biblische und profane Geschichte, liturgische und historische Zeit wurden im Zeremoniell aktualisiert. Eingeschoben ist eine Interpretation einer Illumination in einem dem Herzog gewidmeten Manuskript von Seuses "Horologium Sapientiae" mit dem im 15. Jahrhundert verbreiteten Motiv einer Allegorie der Weisheit neben einem Uhrwerk mit Zifferblatt und Glocke. Seuses Andachtsbuch war zwar enorm verbreitet, enthält allerdings nicht die erste Beschreibung einer mittelalterlichen Uhr. Die findet man im burgundischen Bereich besser bei Jean Froissarts "L'orloge amoureus" (um 1368). Die Zeitarchitektur bzw. die temporalen Bezüge der erwarteten Ankunft des Herrn auf dem Genter Altar der Brüder van Eyck (1432/35) werden dann als eine Art liturgische "figura" für das spätere zivile Ritual als einer Art Re-enactment gedeutet.
Zu den Texten zum Osterstreit und zur Kalenderreform von Paul von Middelburg und Peter de Rivo aus Löwen bietet Champion einige neue kodikologische Einsichten, die thematisch mit der "devotio moderna" zusammenhängen, die in der zur Windesheimer Kongregation gehörenden Abtei Bethleem te Herent bei Löwen gepflegt wurde. Peter de Rivos minutiöse chronologische Harmonisierung der Passionserzählung in den vier Evangelien ("Monotessaron") zeigt das Bemühen um Klärung von alten Problemen der liturgischen Zeit.
Der in mit 50 Auflagen und um 100.000 Exemplaren weit verbreitete "Fasciculus temporum" (1478) des Werner Rolevinck aus Köln bietet eine modern wirkende Darstellung der Weltgeschichte als Bündel historischer Daten und Zeiten in einer horizontalen Zeitlinie, die auch die retrospektive Inkarnationszählung enorm popularisiert. Die Verlängerung der historischen Zeiten nach dem Alter der Welt bzw. vor/nach Christi Geburt entspricht die gegenläufige Verkürzung der Zeit bis zum Ende in der "linea Christi". Champion betont hier die komplexe Vielfalt von Zeitlichkeiten im Werk, in dem die historische Zeit von der Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht verstanden werden sollte als meditativer Weg zu intuitiver Vision der Ewigkeit. Der Autor präsentiert ein großes, interdisziplinär breit gelehrtes und vielfältiges Bündel von ineinandergreifenden "temporalities" in der niederländichen Städtelandschaft des 15. Jahrhunderts.
Voller überraschender Überlegungen enthält der Text m. E. einige methodische Unklarheiten. Terminologisch störend ist die häufige Verwendung des Begriffs "time measurement" auch für Zeitrechnung und für alle Zeit gliedernden und ordnenden Normen und Praktiken. Theologisch ist der Titelbegriff "Fülle der Zeit" transzendent zu verstehen und bezieht sich auf eine "transhistorical temporality". Die weltlichen Aspekte wären besser mit "Fülle von Zeiten" zu beschreiben. Die mit dem vagen Begriff "temporality" beschriebenen Phänomene bleiben chronologisch kaum verortet. Neues und Altes werden so nicht unterschieden, und was für die niederländischen Städte des 15. Jahrhunderts charakteristisch war, bleibt unklar. Die "temporalities" werden als gleichzeitige sichtbar, aber ob und wie und über welche Analogien sie sich verbinden lassen, wie ihre relative Gewichtung war, wird nicht deutlich. Gelegentlich entsteht der Eindruck einer assoziativen Aneinanderreihung der Untersuchungsfelder, bei denen allenfalls Resonanzen zu beobachten sind. Es scheint, als könnte die zweifellos sehr interessante und Disziplinen übergreifende Auswahl fast beliebig weit ausgedehnt werden. Das in vielen Aspekten inspirierende und elegant geschriebene Buch mit seinen disparaten Themen und mit starker Betonung der religiösen "temporalities" ist ein Beitrag zu den vielschichtigen Zeitproblematiken des 15. Jahrhunderts, zeigt aber auch die Schwierigkeiten mit den vielen Dimensionen des Zeitbegriffs in der historischen Forschung.
Anmerkung:
[1] Ricardo J. Quinones: The Renaissance Discovery of Time, Cambridge 1972; Gerhard Jaritz / Gerson Moreno-Riano (eds.): Time and Eternity. The Medieval Discourse, Turnhout 2003; Simona Cohen: Transformations of Time and Temporality in Medieval and Renaissance Art, Leiden 2014.
Gerhard Dohrn-van Rossum