Alina Gromova / Felix Heinert / Sebastian Voigt (eds.): Jewish and Non-Jewish Spaces in the Urban Context (= Jüdische Kulturgeschichte in der Moderne; Vol. 4), Berlin: Neofelis Verlag 2015, 302 S., ISBN 978-3-943414-44-8, EUR 26,00
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Trotz der Allgegenwärtigkeit von Begriffen wie "Getto", "jüdisches Viertel", "Schtetl" oder gerade wegen des häufig indifferenten Gebrauchs derselben, lassen sich diese nur schwer klar definieren. Kann man von "jüdischen Räumen" sprechen? Was genau charakterisiert diese und inwieweit grenzen sie sich von "nicht-jüdischen" ab? Wo verlaufen die Grenzen zwischen sakral und profan, und welche teils unsichtbaren, teils schwimmenden Grenzen lassen sich bei der Untersuchung jener Raumkonzepte ausmachen? Es sind unter anderem diese Fragen, welchen sich der 2015 erschienene Sammelband "Jewish and Non-Jewish Spaces in the Urban Context" widmet. Eine Vielzahl der Beiträge entstand im Rahmen der im Jahr 2012 am Institut für Europäische Ethnologie und dem Georg Simmel Center for Metropolitan Studies in Berlin abgehaltenen gleichnamigen Konferenz. Bereits im Vorwort von Joachim Schlör, der durch seine Arbeiten im Bereich spatial turn das Untersuchungsfeld des Bandes maßgeblich geprägt hat, wird betont, wie eine vergleichende Gegenüberstellung von jüdischen und nicht-jüdischen Räumen fruchtvoll für eine kritische Auseinandersetzung mit Räumen sein kann, und sich hieraus neue Fragestellungen und Impulse mit Hinblick auf die Jewish- und Urban Studies ergeben können.
Der Sammelband umfasst 302 Seiten und gliedert sich in vier Hauptkapitel. Auf das Vorwort und die Einleitung der Herausgeber folgt eine Analyse der Entwicklung historiografischer Raumtheorien im urbanen Kontext durch Felix Heinert, der hier im Besonderen den Konnex "Judentum-Stadt-Moderne" kritisch hinterfragt.
Das erste Kapitel "Historicizing Jewish Space, (De-)Constructing 'the Ghetto' - (Early) Modern Perspectives on the Spacialization of Jewish Modernity" thematisiert konkrete urbane Raumkonzepte. So stellt sich der Beitrag von Jürgen Heyde der Problematik einer Definition des Begriffs "Getto". Hierzu stellt er Untersuchungen gegenüber, die moderne Formen jüdischer Räume im Kontext "Getto" thematisieren.
Maria Cieśla widmet sich in ihrem Aufsatz der Frage, inwieweit bei "Schtetl" von einem genuin-jüdischen Raumkonzept auszugehen ist und analysiert hierzu den christlich-jüdischen Austausch und die sich überschneidenden Lebenswelten in Kleinstädten des modernen Polnisch-Litauischen Ständestaats im 17. und 18. Jahrhundert.
Der Beitrag von Nora Lafi untersucht das Verhältnis der jüdischen und nicht-jüdischen Stadtbevölkerung Algiers im Osmanischen Reich. Hierbei wird im Besonderen die lange in der Geschichtswissenschaft vorherrschende Auffassung einer erst durch Frankreich herbeigeführten Modernisierung Algeriens, insbesondere der jüdischen Bevölkerung, kritisch hinterfragt.
Die Untersuchung von Frank Golczewski thematisiert nationalsozialistischen Gettos in Osteuropa während des Zweiten Weltkriegs. Er stellt die Frage, inwieweit bei NS-Gettos von "jüdischen Räumen" die Rede sein kann und kommt zu dem Ergebnis, dass sich auch unter der Zwangssituation teilweise ein "rudimentärer jüdischer Raum" entwickeln konnte, der als Untersuchungsgegenstand sinnvoll sein kann.
Der nächste Abschnitt widmet sich "Grenzen und Grenzüberschreitung". Der einleitende Beitrag von Anne-Christin Saß analysiert die Handlungs- und Kommunikationsräume osteuropäischer jüdischer Einwanderer in Berlin im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts sowie die transnationalen Vernetzungen von Immigranten innerhalb der Räume der Stadt.
Ruth Leiserowitz zeigt an Hand des preußisch-russischen Grenzgebiets auf, inwieweit Lebenswelten an Grenzen und Grenzüberschreitungen im Kontext politischer Prozesse zu lesen sind und wie dies einen signifikanten Einfluss auf die jüdische sowie nicht-jüdische Bevölkerung und deren Austausch sowie auf die grenzübergreifenden Migrationsbewegungen hatte.
Mirjam Zadoff thematisiert eine Grenzschaffung, maßgeblich durch Antisemitismus und politische Entwicklungen geformt, nämlich der Entstehung eines "nicht-jüdischen jüdischen Raums" während der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus. Als Beispiel dient Werner Scholem, der sich durch seine politische Aktivität einer solchen Abgrenzung ausgesetzt sah.
Das anschließende Kapitel beleuchtet urbane jüdische Lebenswelten im 19. und 20. Jahrhundert. Saskia Coenen Snyder nimmt hier in ihrem Beitrag am Beispiel Berlin den Bau und die Architektur von Synagogen in den Blick und untersucht die mit der Konstruktion und der Planung verbundenen inner- und außer-jüdischen politischen und sozio-kulturellen Einflüsse.
François Guesnet erörtert die Entstehung und Entwicklung der "ersten jüdischen Metropole" Warschau. Hier geht es um innerjüdische sowie nicht-jüdische Kommunikationsräume im Kontext der Stadt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Als "urban Tableaux" bezeichnet Eszter Gantner in ihrem Aufsatz die individuelle Interpretation der jüdischen Vergangenheit von Seiten der Städte und der damit verbundenen Agenda in Bezug auf die städtische Erinnerungskultur. Sie konstatiert, dass historische Tatsachen oder die inner-jüdische Perspektive häufig weit weniger eine Rolle spielen, als wirtschaftliche und marketing-strategische Gesichtspunkte.
Alexis Hofmeister untersucht die Rekonstruktion von Räumen in Retrospektive persönlicher Erinnerungen. Als Beispiel dienen die Aufzeichnungen von Mary Antin und eine verlorene jüdische Lebenswelt im russischen Reich, welche in Form eines idealisierten Bildes der neuen Heimat Amerika als "Anit-Schtetl" gegenübersteht.
Der Abschnitt "Mapping (Non-)Jewish Spaces of Memory, Narration and Representation" widmet sich der Darstellung jüdischer Lebenswelten in literarischen und künstlerischen Narrativen. Monica Rüthers ist an den strukturellen Ähnlichkeiten von jüdischen und Sinti-Roma Topografien interessiert und geht diesen exemplarisch an den in Krakau stattfindenden Klezmer-Festivals und der "fête des gitans" in Saintes-Maries-de-la-Mer auf den Grund. Der Mehrwert einer solchen Gegenüberstellung liegt für Rüthers vor allem in Fragen hinsichtlich einer potentiellen "neuen europäischen Identität", die das große Interesse für diese - wenn auch konstruierten - kulturellen Festivitäten von Minderheiten implizieren.
Im Beitrag von Magdalena Waligórska begegnen wir noch einmal der Thematik vom Umgang von Erinnerungspolitik und -kultur im zeitgenössischen Polen. Die Autorin verdeutlicht am Beispiel Krakau die "Überschreibung" von historischen Orten.
Diana I. Popescu widmet sich der Darstellung der rituellen Schabbatgrenze eruv und der israelisch/palästinensischen Grenzmauer in Kunstprojekten. In den hier vorgestellten Werken jüdischer Künstler werden laut Autorin dynamische Grenzen menschlicher Beziehungen sichtbarer.
Der abschließende Beitrag des Bandes von Martin Kindermann beschäftigt sich mit der literarischen Darstellung der Vielschichtigkeit "jüdischen Raumes" im Roman der britischen Schriftstellerin Naomi Alderman. Der Beitrag zeigt, dass die literarische Annäherung eine durchaus geeignete Form darstellt, um die Dynamiken im Zusammenhang mit Grenzen und Grenzüberschreitungen sichtbar zu machen.
Der Epilog von Wolfgang Kaschuba schließt mit der Frage, inwieweit bei dem jüdischen Leben, wie es heute in Berlin existiert, von einer "Migrationskultur" zu sprechen ist und durch eine "Exotisierung" die deutsch-jüdische Vergangenheit in den Hintergrund gerückt wird. Diese Fragen sind wenige Jahre nach Erscheinen des Bandes und den aktuell geführten Debatten hinsichtlich Migrations- und Erinnerungs-Politik aktueller denn je.
In der Gesamtschau der Beiträge zeigt sich, dass der Band von der Verbindung historischer, soziologischer sowie ethnologischer Fragestellungen profitiert und damit einen Kaleidoskop-artigen Überblick hinsichtlich der Entwicklung und Interpendenz jüdischer und nicht-jüdischer Räume im urbanen Kontext zwischen dem 18. Jahrhundert und heute bietet. Die Beiträge spiegeln den aktuellen akademischen Diskurs wieder und werfen zudem neue wichtige Fragen auf. Der sich abzeichnende Fokus auf osteuropäische Untersuchungsräume kann durchaus einen Anreiz zur Ausweitung der Untersuchungen und für Vergleiche in zukünftigen Studien sein. Auch eine Analyse der vielschichtigen jüdischen sowie nicht-jüdischen Raumkonzepte im Bereich der Displaced Persons-Camps, auch im urbanen Raum, wäre mit Hinblick auf die Forschungslücken in diesem Bereich durchaus vielversprechend.
Julia Schneidawind