Rezension über:

Michele Camaioni: Il Vangelo e l'Anticristo. Bernardino Ochino tra francescanesimo ed eresia (1487-1547), Bologna: il Mulino 2018, XXXI + 612 S., ISBN 978-88-15-27853-1, EUR 65,00
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Rezension von:
Cornel Zwierlein
Bamberg / Erfurt
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Cornel Zwierlein: Rezension von: Michele Camaioni: Il Vangelo e l'Anticristo. Bernardino Ochino tra francescanesimo ed eresia (1487-1547), Bologna: il Mulino 2018, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 4 [15.04.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
/2019/04/32698.html


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Michele Camaioni: Il Vangelo e l'Anticristo

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Es lohnt sich, diese gewichtige, gründliche und einfühlsame Biografie Bernardino Ochinos von den letzten Seiten her zu lesen, die in geraffter Form das streifen, was nicht Gegenstand des Buches ist, die Zeit nach 1547: Ochino folgte zusammen mit Vermigli dem Ruf Thomas Cranmers nach England, noch vor der Umsetzung des Interims in der Reichsstadt Augsburg. Camaioni versetzt sich in Ochino hinein: "Als er sich mit Vermigli nach England aufmachte, muss Ochino wohl gehofft haben, seine Wanderschaft sei endlich zu einem Ende gekommen." - Doch es folgten noch fünfzehn Jahre mit erneuten Wanderungen und Exilstationen, von London, nach Genf, nach Basel, Zürich, Polen und schließlich nach Mähren, wo der 77-jährige Greis aus Siena "jede konfessionelle Zugehörigkeit negierend im Namen jener Gewissensfreiheit, für die er seit den fernen Zeiten seines franziskanischen Spiritualismus gekämpft hatte", als "Häretiker im Sinne aller Glaubensrichtungen" starb (573f.).

Ein an sich ganz unwahrscheinlicher Lebenslauf, blickt man auf die Anfänge eines Zeitgenossen von Machiavelli im spätrinascimentalen Siena, der vor den Stadtmauern im Franziskaner-Konvent von Capriola sich mittels der Lektüre der Werke des Angelo Clareno und des Ubertino da Casale (Arbor vitae) noch ganz im Sinne des spätmittelalterlichen Spiritualismus zum Prediger formte. Später schlug er in Italien wie sogar in Deutschland - obwohl auf Italienisch predigend - die Zuhörer in seinen Bann. Den letzten Kampf Sienas um seine Unabhängigkeit gegenüber Florenz (1512-1526) erlebte er in diesem Kloster, das aufgrund besonderer Exemtionsprivilegien nicht unter das Interdikt des Medici-Papstes fiel und so auf spezifisch klerikaler Ebene einen Teil zum Freiheitskampf der Republik durch Aufrechterhaltung der Seelsorge beitragen konnte (77). Die Einnahme Sienas wie überhaupt die tumultuarische Situation in Italien während der Kriege seit dem französischen Einmarsch von 1494 bildeten das Ferment für eine "Theologie des offenen Himmels" (83) mit apokalyptischen Untertönen von Savonarola über Brandano da Petroio, den Weggenossen Ochinos, bei denen er die ersten prolutherischen und prophetisch-religiösen Eindrücke gesammelt haben dürfte.

1530 wird er in die Ordensprovinz von Venedig abgeordnet, um als neutraler Berichterstatter dem zentralen Reformbischof Gianmatteo Giberto und Gian Pietro Carafa über die ordensinternen Konflikte des dortigen Kapitels zu referieren. Nach dieser administrativen Funktion, bei der er sich eher der Nicht-Reformfähigkeit der observanten Franziskaner bewusst wurde, verblieb Ochino in der Diözese Verona von Giberti: Während vom Reformkatholizismus des disziplin- und inquisitionsfreudigen Giberti eine Entwicklungslinie zur Tridentinischen Gegenreformation führte, war diese Erfahrung der religiösen Strömungen im Veneto der 1530er für Ochino wohl umgekehrt entscheidend und horizonterweiternd. Im gleichen Netzwerk, dem er zugehörte, übersetzte Bartolomeo Fonzio zuerst 1533 Luthers An den christlichen Adel deutscher Nation (Libro de la emendatione et correctione dil stato christiano). Im September 1531 nach Siena zurückgekehrt, wendet er sich zunehmend von den Franziskanern ab und tritt 1534 in den Kapuzinerorden ein. Im Rom des Jahres 1535, das den Einzug Karls V. von der ersten großen Nordafrikaexpedition und die Neuvorbereitungen des Kriegs gegen Franz I. erlebte, begann Ochino die "Evangelien zu predigen [Predica li evangieli]" wie es der Mantovaner Botschafter berichtete (159). Obwohl wir aus dieser frühen Zeit die Predigttexte nicht in extenso überliefert haben, ist deutlich, dass hier ein Übergang zur lutherischen sola-fide- und Rechtfertigungstheologie auf strikter Evangeliumsbasis stattgefunden hatte, im Umfeld auch einer Vittoria Colonna und eines Seripando, auch wenn sicher noch nicht alle Eckpfeiler der protestantischen Doktrin übernommen waren (171).

In Neapel 1537 strömt ihm schon eine große Zuhörerschaft zu (194). Nun wird er auch zum Schriftsteller, widmete 1536 ein Manuskript Dialogo della divina professione der Caterina Cibo in Florenz, der später in den Dialogi sette 1540 gedruckt wurde. Auch wenn hier in der devotionalen Dialogform die theologischen Aussagen noch wenig kontroverstheologisch zugespitzt sind, ist die Betonung der Rechtfertigungstheologie ("salvarsi se non per mezo di Christo", 219) gerade im Vergleich mit anderen Beispielen der Zeit doch schon überdeutlich. Antiphilosophische Stoßrichtungen auf der Linie Savonarolas und Luthers Verdammung der Scholastik finden sich nun bei ihm, der auch als Reformator des Monte di pietà von Perugia mit einer Einrichtung einer Kinder-Sparkasse tätig ist (248f.). 1538 predigt er in Lucca, einer der wichtigsten Keimzellen des italienischen klandestinen Protestantismus (ecclesia Lucchensis), in der auch Vermigli wenig später wirken sollte, 1539 in Venedig, wo einige seiner Predigten als reportationes gedruckt wurden - mit Savonarola ist er damit einer der wenigen Prediger, deren mündliches Wirken schon zu Lebzeiten veröffentlicht wurde.

In all dieser Zeit war eine direkte Konfrontation mit dem Papst noch gar nicht erfolgt: es ist bezeichnend für die komplexen Verhältnisse im Italien dieser Zeit, wie ein so stark öffentlich wirkender Prediger innerhalb weniger Monate und Jahre aus den innersten Beraterkreisen des Medici-Papsttums heraus zum Evangelismus, dann Protestantismus hinübergleiten konnte. Als einige Städte wie Perugia sich aus eher fiskalischen Gründen gegen Paul III. erhoben ('Salzkrieg'), befindet sich nun Ochino zum ersten Mal predigend offen in Opposition zum Heiligen Stuhl. 1541, zum Zeitpunkt des Regensburger Religionsgesprächs und Contarinis Involvierung in die causa Lutheri, ist er in einem noch gemäßigten Schlagabtausch mit Ambrosio Catharini Politi, 1542 wirkt er predigend zwischen Verona, Mantova und Venedig, nun verhärten sich die Fronten: Im Jahr der Gründung der römischen Inquisition (beinahe wäre er einer der ersten Inquisiten geworden) wird er nun auch bei dem alten Protektor Giberti verdächtig. So flieht er schließlich nach Genf - ab nun ist das Visier geöffnet und in Ochinos Predigten und Texten ist der Papst jetzt stets mit dem Antichrist identifiziert, gegen dessen Tyrannei er vorzugehen sucht, die apokalyptische Semantik wird dominierend (493). Dass die Theologie des Evangeliums aber nicht die Staaten zugrunde richtet, sondern im Gegenteil, sie aufrechterhält, ist ihm eine wichtige Botschaft (494). Der Papst, jener Inhaber des "Fürstentums des Antichristen" (522), usurpiert geistliche und weltliche Gewalt zugleich (510).

Nun folgt ein Schlagabtausch mit Politi über Rechtfertigungsdoktrin und Amtsgewalt (Risposta al Catarino, 1546), in der alle Brücken mit der franziskanischen Vergangenheit abgebrochen werden. Zunächst widmet er in diesem Übergang in das neue kulturelle Umfeld dem Mäzen der reformatorischen Bewegung und späterem Kurfürsten von der Pfalz Ottheinrich von Pfalz-Neuburg die wichtigen Zwaintzig Predige, dann wirkt er im nahegelegenen Augsburg, und predigt trotz der aufziehenden Bedrohung durch Karl V. mit erstaunlichem Zulauf auch in dieser Stadt, in der das Italienische als Kaufmannssprache von vielen verstanden wurde. Zwischen Basel, Zürich und Straßburg wandernd, erlebt er dann die Vorbereitungen des Schmalkaldischen Kriegs in der Stadt am Rhein, in der er den schon aus Lucca bekannten Vermigli wiedertrifft.

Ochino gehört seit Karl Benraths Ende des 19. Jahrhunderts publizierten Studien und vor allem seit Delio Cantimoris paradigmatischem Werk über die 'eretici italiani' zu den Galionsfiguren der italienischen Reformationsgeschichte. [1] Doch seit den Arbeiten Niccolinis und Baintons aus den 1930/40ern ist zwar viel Einzelforschung, aber keine wirklich größere Biografie auch nur eines Lebensabschnitts erschienen. [2] So ist diese Arbeit, die die überreiche Forschung zur italienischen Reform(ations)geschichte der 1520er- bis 1530er-Jahre genauso einholt wie die im deutschsprachigen Raum weniger bekannten Geschichten der meist abseits der politischen und Renaissancehistoriografie liegenden zeitgleichen Probleme und Konflikte der Ordensgeschichte, um schließlich der transalpinen Flucht des Kapuziners zu folgen, ein hochwillkommener Beitrag. Neben der Vorstellung und Interpretation des selbstverständlich im Grundzug bekannten Œuvres sind in den Fußnoten viele sorgsam zusammengetragene Funde aus breit gestreuter Archiv- und Manuskriptforschung auf den Spuren des Bruders eingearbeitet, die seine oft zwischen einigen Orten und Briefen doch im Dunkeln bleibende Biografie so gut es irgend geht auf soliden Grund stellt. Ohne Frage ist damit ein wichtiger aktueller Beitrag zur italienisch-deutschen Reformationsgeschichte geleistet, der lange Bestand haben wird.


Anmerkungen:

[1] Delio Cantimori: Eretici italliani del Cinquecento e altri scritti, ed. A. Prosperi, Torino 1992; vgl. für aktuelle Forschung Cornel Zwierlein / Vincenzo Lavenia (eds.): Fruits of Migration. Heterodox Italian Migrants and Central European Culture 1550-1620, Leiden / Boston 2018.

[2] Karl Benrath: Bernardino Ochino von Siena. Ein Beitrag zur Geschichte der Reformation, Braunschweig, 2. Aufl. 1892; Delio Cantimori: Il pensiero religioso e filosofico di Bernardino Tommasini detto Ochino, da Siena, e le sue relazioni col pensiero del Rinascimento, Pisa 1927; Id.: Bernardino Ochino. Uomo del Rinascimento e riformatore, Pisa 1929; Roland H. Bainton: Bernardino Ochino esule e riformatore senese del Cinquecento (1487-1563), Florenz 1940; Benedetto Nicolini: Bernardino Ochino e la Riforma in Italia, Neapel 1935; Id.: Il pensiero di Bernardino Ochino, Neapel 1939.

Cornel Zwierlein