Rezension über:

Jan-Hinnerk Antons: Ukrainische Displaced Persons in der britischen Zone. Lagerleben zwischen nationaler Fixierung und pragmatischen Zukunftsentwürfen, Essen: Klartext 2014, 523 S., ISBN 978-3-8375-1187-1, EUR 39,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Olena Petrenko
Ruhr-Universität Bochum
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Olena Petrenko: Rezension von: Jan-Hinnerk Antons: Ukrainische Displaced Persons in der britischen Zone. Lagerleben zwischen nationaler Fixierung und pragmatischen Zukunftsentwürfen, Essen: Klartext 2014, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 6 [15.06.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
/2019/06/26183.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Jan-Hinnerk Antons: Ukrainische Displaced Persons in der britischen Zone

Textgröße: A A A

Angelehnt an kulturwissenschaftliche Ansätze liefert Jan-Hinnerk Antons eine Studie zum Alltagsleben der Ukrainerinnen und Ukrainer in den DP-Lagern der britischen Zone. Zu Recht bemerkt der Autor, dass die Nachkriegsgeschichte der Ukrainerinnen und Ukrainer in der Westzone lange Zeit nur von unmittelbar Betroffenen verfasst wurde, wobei die eigenen Erlebnisse und politischen Überzeugungen zu einer generalisierten und idealisierten Darstellung der Geschichte der ukrainischen DPs führte. In letzter Zeit entstanden im Zuge der Öffnung der Archive und eines Generationswechsels differenziertere Arbeiten zur Nachkriegsgeschichte der Ukrainerinnen und Ukrainer, zu denen auch die Studie Antons' zählt [1].

Die Zahl der ukrainischen DPs wird für Mai 1945 auf circa drei Millionen geschätzt [2]. Nach Zwangsrepatriierungen und Resettlement-Programmen nach Westeuropa sowie Nord- und Südamerika verblieben in Deutschland bis Mitte der 1950er Jahre noch immer bis zu 250.000 Personen, die ihre Nationalität als ukrainisch angegeben hatten. Die Einschätzungen fallen in der Forschung unterschiedlich aus, denn die DPs wurden nach ihrer Staatsangehörigkeit und nicht nach der Nationalität gruppiert. Da im ukrainischen Fall die aufgenommenen Personen, die sich als Ukrainerinnen und Ukrainer verstanden, verschiedene Staatsbürgerschaften besaßen (überwiegend die sowjetische oder polnische) und entsprechend unterschiedlichen Ländern zugeordnet wurden, stellte die Erhebung ihres Status ein nicht unerhebliches Problem dar. Erst 1947 wurden Ukrainerinnen und Ukrainer als eigenständige nationale Gruppe anerkannt.

Das Buch gliedert sich in acht Kapitel und beginnt mit einem Abriss der historischen Hintergründe und der Ausgangslage in der britischen Zone (Kap. 1, 2, 3). Der Autor arbeitet sich zum einen durch die Problematik der Entstehung und Entwicklung des ukrainischen Nationalismus, zum anderen beleuchtet er die Spezifika der ukrainischen DPs. Das zentrale Kapitel (Kap. 4) widmet sich dem Leben in Lagergemeinschaften. Antons beschreibt hier sehr ausführlich zahlreiche Aspekte des Zusammenlebens (Verwaltung, Räumlichkeiten, Versorgung, Familie) in den DP-Lagern, was die durch ukrainischen Nationalismus, Kriegserfahrungen und Vorgaben der Verwaltung geprägte Lebenswelt für die Leserschaft erfahrbar macht. Im Kapitel fünf werden die Außenbeziehungen der DP-Lager problematisiert. Dieses Themenfeld wird in den Kapiteln sechs und sieben erweitert, indem der Autor den Blick auf das Leben nach dem DP-Lager und auf die in der Folgezeit entstandene Erinnerungslandschaft richtet. In Kapitel acht werden wesentliche Ergebnisse zusammengetragen.

Im Fokus der aus Antons' Dissertation entstandenen Studie stehen die Alltagspraktiken der Ukrainerinnen und Ukrainer in zwei DP-Lagern: dem Lager "Lysenko" in Hannover und dem DP-Camp in Heidenau. Beide Camps sind nicht nur bezüglich der geografischen Lage, sondern auch hinsichtlich der dort herrschenden ideologischen Stimmung und der vorhandenen Integrationsmöglichkeiten als sehr unterschiedlich einzuordnen. Während die zentrale Lage in Hannover bessere berufliche Einstiegschancen für die Campinsassen lieferte, entwickelte sich das DP-Lager in Heidenau zum Zentrum des nationalen Lebens, für welches die Organisation Ukrainischer Nationalisten - Bandera (OUN B) eine prägende Rolle gespielt haben soll.

Der Autor macht es sich zur Aufgabe, "individuelle Erfahrungen, Handlungsspielräume und Determinanten" aufzuzeichnen. Dabei sollen die verschiedenen Handlungsebenen der Akteurinnen und Akteure dargestellt werden, in dem sie nicht nur als "passive Spielbälle der Siegermächte und Objekte von politischen Lösungsstrategien", sondern als aktiv handelnde Personen untersucht werden (9). Die Handlungsmacht der ukrainischen DPs macht Antons anhand zahlreicher Beispiele sichtbar, wobei durch kontinuierlichen Widerstand gegen (Zwangs-)Repatriierungen und durch Bemühungen um Etablierung eigener Strukturen sichtbare Erfolge zu verzeichnen waren. Insgesamt verwendet Antons eine große Vielfalt an Quellen - von Erinnerungen über Zeitzeugeninterviews bis hin zu Zeitungsberichten und den Dokumenten der britischen Militärbehörden.

Der Autor zeichnet das Bild verschiedenster gesellschaftlicher Gruppen, zeigt dabei aber auch dauerhaft vorhandene Bestrebungen nach nationaler Homogenisierung und die institutionelle Dominanz nationalistischer Akteurinnen und Akteure auf. Die einflussreichste Gruppe blieben Antons zufolge antikommunistische Flüchtlinge, die auch die Bildung- und Erinnerungspolitik maßgeblich prägten. Ihre Macht erhielt die Gruppe zum einen durch Repressalien aufrecht, sie stützte sich jedoch auch auf die ablehnende Haltung der meisten ukrainischen DPs bezüglich einer Repatriierung. Diese Bestrebungen nach einem "nationalen Mikrokosmos" (410) hemmten sichtlich die aktive Gestaltung der Außenbeziehungen. In diesem Kontext, aber auch hinsichtlich der politischen Auseinandersetzungen in den DP-Lagern wäre eine vergleichende Studie unter Einbeziehung der DP-Lager in der amerikanischen Zone lohnenswert.

Der Autor entscheidet sich in seiner Studie trotz eigener Bedenken für die Verwendung des generischen Maskulinums. Die Verwendung einer geschlechtergerechten Sprache hätten diesen Bedenken Rechnung getragen; zudem muss man hier auf die zahlreichen Frauen in OUN und in der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) und auch auf ihre politischen Aktivitäten in der späteren Emigration hinweisen [3].

Insgesamt ist die Studie von Antons eine wertvolle Ergänzung zu einem kaum bekannten Kapitel in der Geschichte des ukrainischen Lebens und Überlebens in Nachkriegsdeutschland. Darüber hinaus bereichert sie die Displaced Persons / Refugee Studies mit einem sorgfältig recherchierten und empirisch gut aufgearbeiteten Beispiel der Verknüpfung von Alltag, Repatriierung und nationalen Bestrebungen.


Anmerkungen:

[1] Schätzungsweise befanden sich im Frühjahr 1945 in den westlichen Zonen circa sieben Millionen Displaced Persons. Vgl. Holger Köhn: Die Lage der Lager. Displaced Persons-Lager in der amerikanischen Besatzungszone Deutschlands, Essen 2012, 9; Wolfgang Jacobmeyer: Vom Zwangsarbeiter zum Heimatlosen Ausländer. Die Displaced Persons in Westdeutschland 1945-1951, Göttingen 1985, 42.

[2] Vgl. Marta Dyczok: The Grand Alliance and Ukrainian refugees, New York 2000, 42.

[3] Oksana Kis: National Femininity Used and Contested: Women's Participation in the Nationalist Underground in Western Ukraine during the 1940s-50s, in: East/West: Journal of Ukrainian Studies, 2 (2015) H. 2, 53-82; Olena Petrenko: Unter Männern. Frauen im ukrainischen nationalistischen Untergrund 1929-1954, Paderborn 2018.

Olena Petrenko