Christoph Augustynowicz / Agnieszka Pufelska (Hgg.): Konstruierte (Fremd-?)Bilder. Das östliche Europa im Diskurs des 18. Jahrhunderts, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2017, VI + 232 S., 8 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-050012-7, EUR 69,95
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Katja Castryck-Naumann (ed.): Transregional Connections in the History of East-Central Europe, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2021
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Victor Taki: Tsar and Sultan: Russian Encounters with the Ottoman Empire, London / New York: I.B.Tauris 2016
T. A. Bazarova: Russian Diplomats at the Ottoman Court: Statejnye spiski of Petr Shafirov and Mikhail Sheremetev in 1711 and 1712. Research and documents, St. Petersburg: Istoričeskaja illjustracija 2016
Agnieszka Pufelska: Die "Judäo-Kommune". Ein Feindbild in Polen. Das polnische Selbstverständnis im Schatten des Antisemitismus 1939-1948, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2007
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Der vorliegende Sammelband macht es sich zur Aufgabe, die Thesen und methodischen Ansätze der Postcolonial Studies für die Osteuropastudien nutzbar zu machen. Als Ausgangspunkt dient den Herausgebern eine kritische Auseinandersetzung mit Larry Wolffs "Erfindung Osteuropas". Sie grenzen sich dabei von Wolfgang Geiers zweifelhaftem Versuch ab, Wolffs These von einer durch die westeuropäische Aufklärung imaginierten Trennlinie zwischen West und Ost chronologisch weit ins Mittelalter hinein zu erweitern. [1] Um die "hierarchisierenden Interpretationsmuster" einer kritischen Prüfung zu unterziehen, werden grundsätzliche Fragen aufgeworfen: Gab es ein "standardisiertes Repertoire von Bildern" vom östlichen Europa, und sind diese den "kolonialen Mustern von Zentrum-Peripherie zuzuordnen" (4)? Von der Einsicht in die Konstrukthaftigkeit von Geschichtsregionen ausgehend, fragen die Autoren, ob die westeuropäische (Spät-)Aufklärung eine solche kognitive Konstruktion Osteuropas bzw. die von Wolff ausgemachte "philosophische Teilung" Europas in West und Ost überhaupt betrieben hat. Osteuropa soll also als "Referenzpunkt des postkolonialen Ansatzes" (124) betrachtet werden.
In der Keynote des Bandes wirft Wolfgang Schmale den auf Wolffs Ansatz basierenden Studien vor, in ihrer Quellenwahl wenig repräsentativ zu sein und vorwiegend "hochkulturelle Quellen" untersucht zu haben. Er schlägt dagegen methodische Diversifizierungen und Quantifizierungen in der Arbeit mit den Quellen vor und führt als beispielgebend begriffsgeschichtliche Studien an (15). Auch im diskursanalytischen Zugriff sowie in der sozialhistorischen Semantik nach Reichhard sieht Schmale sinnvolle Lösungen. Die sozial bedingte, hierarchisch-asymmetrische Sichtweise der Akteure des Aufklärungsdiskurses solle berücksichtigt werden. So manche Attribuierungen osteuropäischer Länder wie "barbarisch" oder "asiatisch" seitens der westlichen Reisenden seien nicht unbedingt als pejorative Wertungen anzusehen. [2] Es wird hier eine Gedankenrichtung des Bandes vorgegeben, die darauf hinausläuft, Wolffs Interpretationsschablone - Orientalisierung - durch eine andere zu ersetzen - die Europäisierung des östlichen Europas.
Der Keynote folgen drei Teile, die unter den Überschriften "Polyphone Langfristigkeiten", "Funktionale Inszenierungen" und "Multidimensionale Transfers" jeweils vier Beiträge umfassen. Langfristigkeiten waren insofern polyphon, als dass in ihnen Kontinuitäten, Brüche und Überlappungen Platz fanden. Einschlägige Berichte über osteuropäische Länder wurden durch nachfolgende Texte paraphrasiert oder überlagert. Sie konnten aber auch unter bestimmten politischen und kulturellen Umständen aus der Versenkung auftauchen und eine diskursive Wirksamkeit entfalten, wie dies mit Herbersteins Moscovia (Marija Wakouning) in Russland nach der petrinischen Wende geschah. Wie Herberstein brachten Korb und Weber in ihrem intellektuellen Gepäck Vorwissen und Stereotypen mit, die das beobachtete Andere zum (erwarteten) Fremden machten (Magdalena Andrae). Selbst die Reformen Peters I. konnten an dieser Wahrnehmung wenig ändern. In Korbs "Diarium" und Webers "Das veränderte Russland" wird die kommunikative Funktion von Stereotypen deutlich, auf die Agnieszka Pufelska in ihrem Aufsatz hinweist. Andrae gelingen durchaus interessante Beobachtungen in der Analyse der Fremdwahrnehmung: So expliziert sie eine Umkehrung der Beobachtungsperspektive, die einem Reisebericht inhärent sein kann und die eine (oft komplementäre) interkulturelle Erfahrung erst greifbar macht. Die Berichte habsburgischer Diplomaten (Steven Müller) waren beispielsweise absolut pragmatischen Erwägungen verpflichtet. In ihrer Beurteilung Russlands spielte ausschließlich die Situation innerhalb europäischer Bündnissysteme und der Interessenslage des Wiener Hofes eine Rolle. Für die westlichen Nachbarn Russlands - die Polen - dienten meistens eben solche Berichte westlicher Autoren als Informationsquellen über das Zarenreich (Dariusz Dolański). Das Russlandbild basierte hier auf intellektueller Auseinandersetzung mit Texten und nicht auf Eigenerfahrungen durch Reise und Begegnung.
Funktionale Inszenierungen werden an Beispielen der Image-Produktion russisch-imperialer Herrschaft (Kerstin S. Jobst), der irischen Polendiskurse (Róisín Healy), der Selbstwahrnehmung Danzigs gegenüber der Adelsrepublik (Marc Banditt) sowie der Russland- und Polenvorstellungen in Preußen untersucht (Pufelska). Die prominenten Teilnehmer der Taurischen Reise Katharinas II. wie Segur und de Ligne berichteten positiv über die Reise und trauten den Russen eine zivilisierende Mission in "postosmanischen" Gebieten zu (103, 105). Die Iren nahmen eine spezifische Grenzziehung in Europa vor, die nicht das Gefälle im Fortschritt, sondern das Machtgefälle zwischen den einzelnen europäischen Ländern abbildete. Weniger die Ländererfahrung denn die politische Eigenerfahrung war in dieser kognitiven Einteilung Europas ausschlaggebend. Die westlichen Vorstellungen von Russland und Polen konnten sich innerhalb einer Generation und bei einer Person, z.B. einem Gelehrten wie Leibniz, ins Gegenteil verkehren. Jedenfalls finden sich in seinen Schriften keine Ansätze, die eine Vorstellung von einem einheitlichen Raum Osteuropa erkennen lassen.
Multidimensionale Transfers deuten an, dass die Bewegungen von Wissen, Bildern und Stereotypen in allen Richtungen und auf verschiedenen sozialen und zeitlichen Ebenen verliefen. Getragen wurden diese Prozesse durch Medien und Netzwerke. Als kreative Knotenpunkte können akademische Sozietäten wie die Petersburger Akademie der Wissenschaften betrachtet werden (Tilman Plath). Die Wissenschaftskultur, die in der AdW entstand, hob den West-Ost-Dualismus auf. Dieses Phänomen untergräbt Wolffs Thesen genauso wie der Umstand, dass auch das westliche Europa nicht als eine Einheit begriffen wurde (177). Die räumliche Zersplitterung und kulturelle Vielfalt brachte hybride Identitäten hervor (Agnieszka Dudek), die ebenso Wolffs Ergebnisse obsolet machen. Denn an welche Identität und Kultur lässt sich ein Protagonist wie Leopold Johann Scherschnik festmachen? Bewegungen von ikonografischen Motiven (Christoph Augustinowicz) zeichnen komplexe Transfermuster auf zeitlicher, sozialer, translokaler und lokaler Ebene nach und folgten damit den kolonialen Zentrum-Peripherie-Mustern. Die Botschaften dieser Bilder, hier die von Untoten und von kindsmordenden Juden, waren für Betrachter verschiedener sozialer Schichten verständlich und lesbar. Das erste Motiv kam nach Polen aus dem westlichen Europa, das zweite wirkte aus dem habsburgisch-osmanischen Grenzgebiet heraus in die Zentren der aufklärerischen Diskurse hinein. Im Habsburgerreich (Klemens Kaps) bewegten sich negative Zuschreibungen auf der Ebene administrativer Diskurse nicht nur von West nach Ost, sondern auch umgekehrt und galten vor allem den institutionellen Bedingungen; erst um die Jahrhundertwende wurden sie essentiell und an bestimmte Räume gebunden.
Der Gesamteindruck nach der Lektüre fällt, wie so oft bei Sammelbänden, durchwachsen aus. Die Beiträge von Kerstin S. Jobst und Tilman Plath darf man als gelungen bewerten. Plath bietet Anhaltspunkte für weitere Überlegungen, sowohl zur Zentrum-Peripherie-Problematik als auch zur Geschichte imperialer Diskurse im Zarenreich der "Sattelzeit". Der Aufsatz von Steven Müller ist sehr kenntnis- und faktenreich, einige Deutungen sind aber nicht ganz korrekt: Dass die Kaiserin Anna als Frau den Orden des Hl. Andreas bekam, war keine Ausnahme. Als Herrschaftsabzeichen stand ihr das blaue Band sogar zu. In so manchem Beitrag sind durchaus interessante Beobachtungen mit Ausführungen aus allerlei Theorien regelrecht verschüttet. Ein weniger theoriebasierter Band hätte wichtige Befunde durchaus auch erst einmal für sich sprechen lassen können.
Trotz dieser Monita ist es fraglos ein Verdienst der hier versammelten Beiträge, Erkenntnisse von Wolff zu revidieren. Sie schärfen so den Blick für regionale Spezifika, für differente Raumwahrnehmungen und die Polyvalenz der Betrachtungsperspektiven der Akteure. All dies war viel zu "polyphon", als dass sich von einem spezifischen Osteuropabild im 18. Jahrhundert sprechen ließe. Der Band nähert sich synthetischer Geschichtsschreibung und verortet die Studien im Spannungsfeld zwischen dem Bewusstsein Osteuropas als Konstrukt von Wahrnehmung ("Wahrnehmungsraum") und mapping einerseits und als Struktur- und Handlungsraum bzw. heuristisch gefasster Geschichtsregion andererseits. Deutlich wird hier die epistemische Produktivität eines Ansatzes, welcher, statt dem Rückständigkeitsparadigma "nachzuplappern", dieses einer kritischen historischen Analyse unterzieht, wie das Pufelska in ihrem Beitrag macht. Im Grunde stellt dieser Sammelband einen weiteren Beitrag zur Überwindung des umstrittenen, politisch kontaminierten Konzepts "Geschichtsregion" dar, welches seine Wurzeln in den von Fremdzuschreibungen diktierten Großregionalisierungen des 20. Jahrhunderts hat. Die Autoren untersuchen dankenswerterweise Diskontinuitäten in den westlichen Osteuropabildern. Eine Überbetonung angeblicher struktureller Kontinuitäten kann dazu verleiten, politisch "nützliche" Diskurse in die Vergangenheit zurück zu projizieren. Es wäre übrigens interessant zu untersuchen, wie es sich heute in einigen Ländern Osteuropas mit den Diskursen der eigenen "Mitteleuropäität" in Abgrenzung zu Russland verhält. Umso mehr gilt es auch für solche Studien wie die hier besprochenen, sich davor zu hüten, künstlich eine historische Teleologie eines vereinten Europas herbeizuschreiben.
Anmerkungen:
[1] Wolfgang Geier: Europabilder. Begriffe, Ideen, Projekte aus 2500 Jahren, Wien 2009.
[2] Dazu bereits Regina Stürickow: Reisen nach St. Petersburg. Die Darstellung St. Petersburgs in Reisebeschreibungen (1815-1861), Frankfurt am Main 1990, 138.
Alexander Bauer