Eva Knopf / Sophie Lembcke / Mara Recklies (Hgg.): Archive dekolonialisieren. Mediale und epistemische Transformationen in Kunst, Design und Film (= Edition Kulturwissenschaft; Bd. 173), Bielefeld: transcript 2018, 263 S., eine Farb-, 47 s/w-Abb., ISBN 978-3-8376-4342-8, EUR 29,99
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Manchmal findet man ein Buch, das theoretische Aus- und Neuwege und sogar praktische Anweisungen bietet, ohne jedoch einen normativen oder gar allwissenden Unterton zu haben. Die 2018 erschienene Publikation "Archive dekolonisieren" ist so ein Buch. 23 Autoren und Autorinnen aus ganz unterschiedlichen Disziplinen - das Spektrum reicht von Filmemachern und Filmemacherinnen, Kuratoren und Kuratorinnen, Künstlern und Künstlerinnen bis hin zu Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen - befassen sich in 17 Beiträgen mit Archiven und deren Wiederentdeckung, Neulesung, Re-Kontextualisierung, Auflösung und / oder Dekolonialisierung. Das Buch reiht sich ein in ein breites Forschungsfeld der kritischen Archivforschung, wie die Fülle an Publikationen zu dieser Thematik aufzeigt. [1]
Die Bandbreite der Themen ist bemerkenswert vielfältig. Sie deckt abstrakte Wissensformationen im Sinne Foucaults ab (auch wenn dieser in seiner eurozentrischen Einschränkung im Hintergrund bleibt), sowie konkrete Sammlungen von Objekten, von Dingen also, denn, wie Undine Stabrey bemerkt: "Nie war die Welt so dingbevölkert wie jetzt." (189) Dinge sind es, die die meisten Autoren und Autorinnen umtreiben, wie bereits der Titel des Symposiums "Translating Pasts into Futures - Dekoloniale Perspektiven auf Dinge" vermuten lässt, das 2017 an der HFBK in Hamburg dieser Publikation vorausging: "Die Arbeit mit Dingen ermöglicht eine Bewegung durch die Zeit, um im Rückgriff auf die Narrative von Vergangenheiten mögliche Zukünfte zu entwerfen und zu formulieren" (8), so die Herausgeberinnen.
In den gesammelten Beiträgen, geht es nicht nur um eine Dekolonialisierung von Archiven, sondern um antikoloniale Praktiken und in diesem Zuge auch um die Dekolonialisierung des eigenen Blicks, des eigenen Denkens. Gefordert wird Ungehorsam gegen westliche Epistemologie, sowie das beispielsweise Holger Lund getan hat, der seinen Beitrag als europäischer Wissenschaftler zu einer genuin afrikanischen Pop-Musikgeschichte aus afrikanischer Perspektive kritisch hinterfragt (244).
Wie kann man aber Codierungen, die dem Archiv und auch dem eigenen Blick innewohnen, entgegentreten? Wie kann man sich der Logik des Archivs entziehen und somit Relektüren möglich machen? Besonders eindrucksvoll ist hier der Beitrag von Eva Knopf. Am Beispiel des deutsch-tansanischen Schauspielers Mohamed Husen, der als Statist in zahlreichen deutschen Spielfilmen spielte und im Jahr 1943 im KZ Sachsenhausen starb, setzt sie sich nicht nur mit archivarischem Material auseinander, sondern montiert dieses neu. Knopf bricht somit das Archiv auf und bietet eine von vielen Einstiegsmöglichkeiten an, "[...] um einen Raum für die Geschichten zu schaffen, die sich außerhalb oder am Rande desselben befinden." (100) Mit den Lücken und Brüchen in Archiven, also mit der "[...] im Sichtbaren entstehende Unsichtbarkeit [...]" (76) beschäftigt sich auch Trinh T. Minh-ha. Sie schreibt der Abwesenheit von Bildern des Dalai Lamas eine ebenso starke repräsentative Funktion zu, wie ihrer Anwesenheit.
Dinge in Archiven sind seh- und erfahrbar, haben körperliche und emotionale Qualitäten, denen sich Alyssa Grossmann und Selena Kimball mit ihren "archivalischen Begegnungen" nähern (19). Durch eine wortwörtlich verstandene Auseinandernahme und Neuzusammensetzung von Objektbildern und dazugehörigen Texten eines Kataloges des Frankfurter Weltkulturen Museums [2] machen die beiden Autorinnen deren Kategorisierung unmöglich. Sie hinterfragen dadurch nicht nur innewohnende koloniale Ordnungsstrukturen, sondern auch die 'Wahrhaftigkeit' von Archivmaterial (28), welches ebenso spezifischen Diskursen unterworfen ist, wie die daran beteiligten Akteure.
Zu dem oben erwähnten Ungehorsam gegen westliche Denkstrukturen und normative Vorgaben fordern weitere ganz unterschiedliche Texte auf, die von Theorie-Essays (wie die von Kjetil Fallan und Grace Lees-Maffai) über Interviews (mit den Kuratoren und Kuratorinnen von SAVVY Contemporary in Berlin über ihr partizipatorisches Archiv- und Forschungsprojekt Colonial Neighbours Archiv) bis hin zu experimentellen Essays (wie das von Anna Markowska) reichen. Dieses Nebeneinander verschiedener Formate fordert die eigenen Denk- und Lesemuster auch auf formaler Ebene heraus. Dies trifft in ganz besonderem Maße auf die Objektperformance von Marie Kirchner zu, die versucht, die Perspektive der Objekte selbst miteinzubeziehen (34). Ein weiteres Beispiel ist die "Gebrauchsanweisung" für eine Verrückung der Ordnung der Dinge von Veronika Darian und Jana Seehusen, die mithilfe eines szenischen Dialogs kommentieren, widersprechen, hinterfragen und ein Archiv im Entstehen begreifen wollen (125).
Zu den vielen unterschiedlichen theoretischen und auch methodischen Ansätzen, wie sie in den Beiträgen hinterfragt, vorgestellt und angewendet werden, kommen Kunst-Projekte, die schon heute auf einen zukünftigen Umgang mit Archiven, mit Dingen und mit dem eigenen Denken verweisen. So diskutiert das Künstler und Künstlerinnen Duo Nora Al-Badri und Jan Nikolai Nelles die Möglichkeit von (digitalen) Kopien, die das Original ersetzen und als eigenständige Objekte fungieren können (66). Umgesetzt haben sie diese Idee mit einem Scan der berühmten Nofretete, die sie als 3D-Datei zum Download anbieten. [3] Das digitale Objekt schafft einen Freiraum, "[...] der nicht mehr durch klassische Kategorisierung oder Besitzverhältnisse zu ordnen ist" (67). Diese emanzipatorische Strategie kann auch für ein Umdenken innerhalb der Museen sorgen, die zu einem Ort neuer Wissensproduktion werden.
Die Beiträge sind zwangsläufig sehr heterogen, doch vereint sie die Konzentration auf das Objekt, das Ding, an dem sich Öffnungen der Archivlogik vollziehen können, und die die meisten der Beiträge eindrucksvoll umgesetzt haben. Verlangt wird von der Leserschaft eine radikale Änderung eigener Seh- und Denkgewohnheiten, also eine Überprüfung der (eigenen) westlichen Codierungen, was nicht allen so deutlich gelungen ist, wie Holger Lund. Die Publikation und die darin geforderten antikolonialen Praktiken im Umgang mit Archiven zeigen besonders vor dem Hintergrund der heutigen Restitutionsdebatte, dass der Zugang zu Archiven Geschichten und Geschichte schreibt und damit vermeintliche Besitzansprüche manifestiert. Es wird deutlich, wie wichtig gemeinsames Wahrnehmen ist und wie Öffnung und Rückführung von Archiven und Sammlungen zu neuen Sichtweisen führen kann.
Anmerkungen:
[1] Siehe u.a. Carolyn Hamilton / Verne Harris / Jane Taylor / Michele Pickover / Graeme Reid / Razia Saleh (eds.): Refiguring the Archive, Dordrech / Boston / London 2002; Ann Laura Stoler: Along the Archival Grain: Epistemic Anxieties and Colonial Common Sense, Princeton / Oxford 2009; Knut Ebeling / Stephan Günzel (Hgg.): Archivologie: Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten, Berlin 2009; Anja Horstmann / Vanina Kopp (Hgg.): Archiv - Macht - Wissen: Organisation und Konstruktion von Wissen und Wirklichkeit in Archiven, Frankfurt / New York 2010; Sonja Mejcher-Atassi / John Pedro Schwartz (eds.): Collecting Practices in the Modern Arab World, London / New York 2012; Thomas Weitin / Burkhardt Wolf (Hgg.): Gewalt der Archive: Studien zur Kulturgeschichte der Wissensspeicherung, Konstanz 2012; Christopher Morton / Darren Newbury (Hgg.): The African Photographic Archive: Research and Curatorial Strategies, London (u.a.) 2015.
[2] Es handelt sich um den Katalog von Achim Sibeth (ed.): Being Object, Being Art: Masterpieces from the Collection of the Museum of World Cultures, Tübingen 2010.
[3] http://nefertitihack.alloversky.com.
Katharina Greven