Stefan Grüner / Sabine Mecking (Hgg.): Wirtschaftsräume und Lebenschancen. Wahrnehmung und Steuerung von sozialökonomischem Wandel in Deutschland 1945-2000 (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte; Bd. 114), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2017, VI + 331 S., eine Tabl., 2 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-052024-8, EUR 24,95
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Der wirtschaftliche Strukturwandel und die darauf reagierende Strukturpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg sind kein ganz neues Thema der historischen Forschung.[1] Häufig wird der Strukturwandel mit dem Niedergang der "alten" Industrien in den siebziger Jahren in Verbindung gebracht.[2] Die Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes betonen jedoch zurecht, dass Strukturwandel auch in der Zeit des Booms der 50er und 60er Jahre stattfand, wenn er auch wegen der guten wirtschaftlichen Gesamtlage weniger im Blickpunkt der Öffentlichkeit stand. Darin liegt jedoch nicht das eigentlich Neue des Sammelbandes, sondern erstens in der konsequenten Fokussierung auf Akteure jenseits und unterhalb der nationalstaatliche Ebene (insbesondere die Länder, aber auch Kommunen oder Gewerkschaften), und zweitens in der Einbeziehung der ostdeutschen Erfahrungen mit dem Strukturwandel.
Der Band enthält neben der Einleitung sechzehn Aufsätze, die in vier Themenblöcke unterteilt sind. Der erste Block beschäftigt sich mit den nationalen Rahmenbedingungen, der zweite präsentiert regionale (z.B. Ruhrgebiet) und sektorale (z.B. Textilindustrie, Eisen und Stahl) Beispiele, der dritte widmet sich strukturpolitischen Diskursen, Wahrnehmungen und Deutungen, und der vierte Teil schließlich geht stärker auf nicht-staatliche Akteure ein. An sich ist die Gliederung gut nachvollziehbar, lediglich der vierte Teil wirkt wie eine Residualkategorie, was aber nicht gegen die dort versammelten Aufsätze spricht.
Die Aufsätze sind insgesamt von hoher Qualität. Viele der Beiträger beschäftigen sich schon länger mit dem jeweils behandelten Thema und dürfen Expertenstatus beanspruchen. Hervorzuheben sind die Beiträge von Stefan Grüner, der einen sehr lesenswerten Abriss der Geschichte der Strukturpolitik in der Bundesrepublik bis Mitte der 70er Jahre bietet, und ein ähnlicher Artikel für die DDR von Jörg Roesler. Grüner argumentiert zurecht, dass industriepolitische Eingriffe in den 50er und 60er Jahren in der Bundesrepublik zwar ein geringeres Ausmaß einnahmen als in anderen westeuropäischen Ländern wie Frankreich oder Großbritannien, dass sie aber dennoch stärker vorhanden waren als vermutet bzw. als es dem offiziellen Konzept der Sozialen Marktwirtschaft entsprochen hätte. Allerdings fehlte ein Gesamtkonzept, so dass die Maßnahmen häufig Stückwerk blieben. Jörg Roesler kommt hingegen zu einem positiven, vielleicht zu positiven Fazit der DDR-Strukturpolitik. Durch die Industrialisierung der Nordbezirke, so Roesler, seien bis Mitte der 70er Jahre die Einkommensunterschiede zwischen Nord und Süd im Osten Deutschlands weitgehend nivelliert worden. Das mag stimmen, aber gleichzeitig taten sich doch neue Unterschiede auf wie zwischen Zentrum und Peripherie (Berlin und die anderen Bezirke). Zudem wäre die Frage zu erörtern, ob in der DDR nicht zu lange überkommene Wirtschaftsstrukturen konserviert wurden, die sich dann im Zuge der Vereinigung als nicht mehr anpassungsfähig erwiesen (z.B. große Teile der Textilindustrie).
Interessant ist ferner der Beitrag von Rainer Karlsch über industrielle Kerne in Ostdeutschland, der die Transformationsphase der 90er Jahre in den Blick nimmt. Er untersucht die Warnowwerft Warnemünde, das Eisenhüttenkombinat in Eisenhüttenstadt und Leuna 2 als Standort der Chemieindustrie. Er kommt zu dem interessanten Schluss, dass sowohl bei der Gründung dieser industriellen Kerne in der DDR als auch bei der Privatisierung in den 90er Jahren keineswegs rein wirtschaftliche Aspekte eine Rolle spielten, sondern immer auch der internationale Kontext (z.B. die EU) zu beachten war.
Lesenswert ist ebenfalls der Beitrag von Thorsten Harbeke über touristische Infrastrukturpolitik in Schleswig-Holstein am Beispiel von Burg auf Fehmarn. Er argumentiert, dass der stürmische Ausbau der touristischen Infrastruktur Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre weniger auf eine gezielte Strukturpolitik zurückging als auf fragwürdige Finanzierungsmodelle von Unternehmen.
Ein klares Fazit bieten die Herausgeber nicht an. Sie plädieren vielmehr für eine differenzierte Betrachtung des Strukturwandels auf der Mesoebene. Ein allgemeingültiges Erfolgsrezept gibt es nicht, sondern es bedarf einer Fülle von positiv zusammenwirkenden Faktoren (wirtschaftliche, politische und kulturelle), um Strukturwandel erfolgreich zu meistern.
Insgesamt handelt es sich also um einen lesenswerten Sammelband für alle, die sich für die Geschichte des Strukturwandels und der Strukturpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg interessieren. Der Vergleich mit der DDR bzw. Ostdeutschland ist anregend, auch wenn sich daraus kein klares Fazit ergibt. Was fehlt, ist eine europäische Perspektive [3], und der Blick "von unten". Obwohl nicht-staatliche Akteure wie Gewerkschaften oder mittelständische Unternehmen durchaus thematisiert werden, widmet sich kein Beitrag direkt den vom Strukturwandel Betroffenen, also z.B. Arbeitern oder Angestellten, die sich aufgrund des Strukturwandels eine neue Stelle suchen oder mit der nach Jahren der Vollbeschäftigung neuen Erfahrung der Arbeitslosigkeit umgehen mussten. Ein solcher mikrohistorischer Blick hätte den insgesamt empfehlenswerten Band noch weiter abgerundet.
Anmerkungen:
[1] Z.B. Gerold Ambrosius: Wirtschaftsstruktur und Strukturwandel, in: Moderne Wirtschaftsgeschichte. Eine Einführung für Historiker und Ökonomen, hg. von Gerold Ambrosius/Dietmar Petzina/Werner Plumpe, 2. Aufl., München 2006, 213-234; Martin Gornig: Gesamtwirtschaftliche Leitsektoren und regionaler Strukturwandel. Eine theoretische und empirische Analyse der sektoralen und regionalen Wirtschaftsentwicklung in Deutschland 1895-1987, Berlin 2000.
[2] André Steiner: Abschied von der Industrie? Wirtschaftlicher Strukturwandel in West- und Ostdeutschland seit den 1960er Jahren, in: Der Mythos von der postindustriellen Welt. Wirtschaftlicher Strukturwandel in Deutschland 1960-1990, hg. von Werner Plumpe/André Steiner, Göttingen 2016, 15-54.
[3] Dazu jetzt: Lutz Raphael: Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom, Frankfurt am Main 2019.
Manuel Schramm