Martin Clemens Winter: Gewalt und Erinnerung im ländlichen Raum. Die deutsche Bevölkerung und die Todesmärsche, Berlin: Metropol 2018, 531 S., 6 Farb-, 17 s/w-Abb., ISBN 978-3-86331-416-3, EUR 29,90
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Mitte 1944 begann die SS, die Konzentrationslager an der Peripherie des deutschen Herrschaftsbereiches zu räumen. Bis Kriegsende 1945 wurden Hunderttausende KZ-Häftlinge in Güterzüge gedrängt oder auf kilometerlange Fußmärsche getrieben. Erschöpfte Gefangene, die sich nicht weiterschleppen konnten, wurden von den Bewachern an Ort und Stelle erschossen. Die Geschichte der Todesmärsche hat der Leipziger Historiker Martin Clemens Winter in seiner Dissertation eingehend untersucht. Dabei knüpft er an die jüngere Forschung an, die die Räumung meist in den Kontext der Gewalteskalation im letzten Kriegsjahr [1], der Endphase des KZ-Systems [2] oder der Geschichte einzelner Lager [3] einordnet. Einschlägige Arbeiten gehen der Frage nach, warum die Todesmärsche angeordnet wurden, sie analysieren Befehlsstrukturen, Organisation und Tätermotivation. Dieser "vertikalen Logik" stellt Winter eine "horizontal operierende Perspektive" gegenüber: Er betrachtet die Rolle der deutschen Landbevölkerung und fragt "ob und wie" (20) die Todesmärsche in die nationalsozialistische Gesellschaft eingebettet waren. Dabei untersucht Winter nicht allein die "Handlung" (31) in der NS-Zeit, ausführlich geht er auch auf die juristische "Ahndung" (200) der Verbrechen und die "Erinnerung" (338) an die Todesmärsche ein. Winter strebt keine Gesamtdarstellung an. Er handelt die Räumungen der Lager weder in chronologischer noch in geografischer Folge ab. Vielmehr nähert er sich dem Thema anhand der Analyseebenen "Raum", "Akteure", "Situationen" und führt etliche Beispiele dazu an. Der Autor stützt sich in seiner Studie auf Ermittlungsakten, Erhebungen des Internationalen Suchdienstes, Dokumente der Überlebendenverbände und Presseerzeugnisse, außerdem zieht er die Ergebnisse (lokal-)historischer Studien heran.
Mit Blick auf die Verbrechen im Kontext der Todesmärsche in Gardelegen hob Diana Gring die "geografische Zufälligkeit der Tatorte" [4] hervor; Winter betont dagegen, dass der Prozess, "wie aus dörflichen Räumen Tatorte von Massengewalt wurden" (455), nicht ungesteuert ablief. So handelten die Gemeinden mit den KZ-Wachmannschaften aus, welche Scheunen oder Sportplätze sich als kurzfristige Gefangenenlagerplätze eigneten. Die Ortsvertreter verfolgten eigene Interessen: Sie sahen die Häftlinge als Bedrohung, wollten deshalb Fluchten verhindern und vermeiden, dass sich KZ-Insassen unkontrolliert in ihrer Gemeinde bewegten.
Anknüpfend an die Arbeiten von Daniel Goldhagen [5] und Daniel Blatman [6] richtet Winter den Blick auf die Akteure. Differenziert analysiert er die Rolle der Frauen in den Dörfern, die Stellung der Pfarrer und der Lehrer. Außerdem betrachtet Winter die unmittelbar Verantwortlichen: Bürgermeister, die dafür sorgten, dass tote Häftlinge begraben oder verscharrt wurden, und die meist die Befehle gaben, wenn Hitlerjugend und Volkssturm mobilisiert wurden, um Jagd auf entflohene Gefangene zu machen. In Wernersgrün teilte der Bürgermeister persönlich Waffen an die Hitlerjungen aus. Oft forcierten Ortsgruppenleiter der NSDAP die Gewalt, schreckten auch vor Morden nicht zurück, um sich der Gefangenen zu entledigen. Vielerorts töteten Polizisten entflohene Häftlinge wie Max Lepach in Semmenstadt, der drei Gefangene schon ins Spritzenhaus gesperrt hatte, sie dann aber doch noch erschoss. Die meisten Einwohner sahen einfach weg, Winter schildert aber auch Fälle von Denunziation und Gefangenenhilfe. Typische Handlungsmuster lassen sich den Bevölkerungsgruppen nur bedingt zuordnen. Die Akteure verfügten über vielerlei Spielräume, ihr Handeln weist eine hohe Varianz auf. Stärker als Goldhagen und Blatman, die ideologische Motive betonen, hebt Winter situative Faktoren hervor. Wegen der breiten Beteiligung der Bevölkerung spricht er vom "letzten NS-Gesellschaftsverbrechen" (197).
Nach Blatman starben von den über 714.000 KZ-Häftlingen des letzten Kriegsjahres mehr als 35 Prozent; viele wurden Opfer der Todesmärsche. Angesichts dieses Ausmaßes ist die Zahl der überführten Täter, die später zur Rechenschaft gezogen wurden, minimal. Nicht zuletzt wegen der nachlässigen Strafverfolgung in der Bundesrepublik und des politisch determinierten Vorgehens der DDR-Justiz nennt Winter die Ahndung der Todesmarschverbrechen eine "Geschichte des Scheiterns" (333).
Nach der Befreiung setzten sich Alliierte und Überlebende dafür ein, dass die Toten erfasst und bestattet wurden. Vor allem die US-Truppen nahmen dafür die Bevölkerung in die Pflicht, die sie zugleich mit den Schrecken der Tatorte konfrontierten. Später dienten diese oktroyierten Maßnahmen vielen Deutschen als Argument, sich selbst zum Opfer zu stilisieren. Aber Winter warnt davor, die Reeducation pauschal als gescheitert einzustufen, und fragt, ob angesichts der nationalsozialistischen Massenverbrechen "Kategorien wie Erfolg und Misserfolg" (344) überhaupt taugen, um die Maßnahmen zu bewerten.
Der Verfasser weist nach, dass die Bevölkerung Ost- wie Westdeutschlands bemüht war, die Erinnerung an die NS-Verbrechen schnell hinter sich zu lassen. In Bayern öffneten zahlreiche Gemeinden die Gräber und überführten die Opfer der Todesmärsche auf die beiden KZ-Friedhöfe in Flossenbürg und Dachau-Etzenhausen. Treffend analysiert Winter, dass sich die Ortschaften so der letzten Spuren der Todesmärsche entledigten. Auch in Sachsen veranlasste das SED-Regime die Auflösung von KZ-Gräbern. Zwar fanden sich in der DDR bald allerorten Gedenkzeichen für die (politischen) "Opfer des Faschismus", aber die "Denkmalsinflation" (370) atmete bereits den Geist der SED-Geschichtspolitik, die jüdische Opfer der Todesmärsche ebenso verschwieg wie die Rolle der Einheimischen. Das änderte sich erst in den 1980er Jahren: mit den Forschungen der Mahn- und Gedenkstätten in der DDR und durch lokale Geschichtswerkstätten in der Bundesrepublik.
Winter, der in der Gedenkstätte Mittelbau-Dora arbeitete und heute als Historiker bei der Stadt Leipzig beschäftigt ist, hat mit seiner Studie einen wichtigen Beitrag zur Erinnerung an die Todesmärsche geleistet. Zurecht wurde seine Dissertation 2018 vom Internationalen Dachau-Komitee mit dem "Stanislav Zámečnίk Studienpreis" ausgezeichnet. Schlüssig analysiert Winter das Handeln der Bevölkerung, sodass sich seine Arbeit auch als Beitrag zur Gesellschaftsgeschichte des ländlichen Raumes in der Endphase des NS-Regimes liest. Durch die "Trias von Handlung, Ahndung und Erinnerung" (455) gelingt es ihm, den inneren Zusammenhang zwischen der Beteiligung der Bevölkerung an den Todesmärschen, der nachlässigen Strafverfolgung und der bis heute noch oft selektiven Erinnerung an das Geschehen anschaulich vor Augen zu führen.
Anmerkungen:
[1] Sven Keller: Volksgemeinschaft am Ende. Gesellschaft und Gewalt 1944/45, München 2013.
[2] Stefan Hördler: Ordnung und Inferno. Das KZ-System im letzten Kriegsjahr, Göttingen 2015.
[3] Katrin Greiser: Die Todesmärsche von Buchenwald. Räumung, Befreiung und Spuren der Erinnerung, Göttingen 2008.
[4] Diana Gring: Das Massaker von Gardelegen, in: Dachauer Hefte 20 (2004), 112-126, hier: 116.
[5] Daniel Jonah Goldhagen: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996, 385-438.
[6] Daniel Blatman: Die Todesmärsche 1944/45. Das letzte Kapitel des nationalsozialistischen Massenmords, Reinbek bei Hamburg 2011, 609-672.
Dirk Riedel