Maren R. Niehoff: Philo of Alexandria. An Intellectual Biography (= The Anchor Yale Bible Reference Library), New Haven / London: Yale University Press 2018, XII + 323 S., ISBN 978-0-300-17523-3, USD 38,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
"An intellectual biography of Philo" zu schreiben (1), ist nicht leicht. Wenig ist zu Philons Leben überliefert, nur zwei seiner Werke sind sicher zu datieren, Legatio und Flaccus. Zu Recht geht Niehoff daher für die von ihr erstrebte "relative chronology" der Werke (5) von Philons Aufenthalt in Rom 38/41 n.Chr. aus und dortigen Diskursen in der Annahme, dass Philon sie während seines Aufenthalts rezipierte, vielleicht sich sogar selbst beteiligte. Wie van der Horst zu Chairemon und Göransson zu Areios Didymos kann daher auch Niehoffs Studie beitragen, den Wechsel alexandrinischer Gelehrter an die Tibermetropole nicht nur mit Fraser als Teilursache eines Niedergangs alexandrinischer Fachgelehrsamkeit wahrzunehmen, sondern als gegenseitige Bereicherung ("negotiations between East and West", 2), wie sie seit spätrepublikanischer Zeit vielfach zwischen beiden Städten bestand. [1]
Niehoffs Hauptaugenmerk liegt auf den stoischen und platonischen Elementen in Philons œuvre (93-241). Dass sich solche finden, ist nicht neu. [2] Auch eine chronologische Ordnung wurde bereits damit zu entwickeln versucht. Doch ob bei Praechter oder Niehoff: Stets ist sie abhängig davon, ob Philon mehr als jüdischer Denker gesehen wird oder als Philosoph in auch nichtjüdischen Traditionen. Praechter sieht alle "Schriften philosophischen Inhalts" als Frühwerk an, alle "Erläuterungsschriften zum Pentateuch" [3] als Hauptwerk, "historisch-exegetische" Texte als Spätwerk. Niehoff ordnet Erläuterungen zum Pentateuch und platonisch beeinflusste Texte der Zeit vor dem Romaufenthalt zu, alle vorwiegend stoisch geprägten der Zeit danach, da "his perspective was irreversibly changed" durch Diskurse stadtrömischer Stoiker (11). Sie stimmt damit der aktuellen Tendenz zu, stärker griechisch-römische Denktraditionen Philons wahrzunehmen.
Einiges spricht für Niehoffs Annahme, dass stoisches Gedankengut durch den Romaufenthalt in Philons Werk präsenter wurde. In Alexandria bestand ein starkes Interesse an Platon: Papyri enthalten oft Platondialoge, auch den Kommentar des Thrasyllos, [4] aber nur selten andere Philosophen. [5] Eratosthenes kommentierte Platon (Πλατωνικóς, gelesen noch im 3. Jh. n.Chr. laut P.Turner 39). Mittelplatoniker waren vor Ort. Stoiker aus Alexandria wie Diodor, Theon und Chairemon (Neros Lehrer für stoische Philosophie) wirkten letztlich aber v.a. in Rom. [6] In Rom war ein Interesse an stoischer Philosophie seit mittelrepublikanischer Zeit vorhanden. [7] Platoniker scheinen weniger präsent gewesen zu sein, der Akademiker Philon von Larissa wohl dort von stoischen Ideen beeinflusst worden. Auch Antiochos von Askalon, amicus des Lucullus, übernahm zahlreiche Traditionen, auch wenn er sich als einer, der die platonische Tradition der Schule wiederhergestellt habe, gab. [8] So ist es sicher denkbar, Philons stärker platonisch beeinflusste Texte in seine Zeit in Alexandria zu legen.
Die Passagen zu den Unruhen 38 n.Chr. überzeugen weniger (25-46). Niehoff fasst sie als "ethnic violence/tensions" auf (1.4.31.47; "pogroms", 4; "Egyptian/Alexandrian nationalists", 31-2), was hinter den aktuellen Forschungsdiskurs zurücktritt [9], auch angesichts des 19. und 20. Jh. in terminologischer Hinsicht Fragen aufwirft gerade, wenn nicht die "events themselves" der "main concern" sein sollen, "but Philo's interpretation of them" (4-5).
Die Formulierung hängt wohl ab von Niehoffs Auffassung, Philon schreibe Legatio und Flaccus als "historiography" (8.27; "historical writings/treaties", 2.4-7.9.16.25-6.47), weshalb sie Philons Sicht auf die Ereignisse folgt (leg. 117; 119: "ἔθνος [...] τῶν Ἰουδαίων", "μέγιστος οὖν καὶ ἀκήρυκτος πόλεμος"). Doch wurde nicht nur der Rechtsstatus verhandelt, den das jüdische πολίτευμα angesichts seiner religiösen Eigenheiten haben konnte oder sollte, sondern auch die von der griechischen Bevölkerung erstrebte βουλή. Liest man die Legatio im Kontext (Niehoff nutzt die Acta Alexandrinorum nicht, den Claudius-Brief P.Lond. 1912 beiläufig und ohne abzugrenzen zur Version Ios. ant. 19,286-91), so wird deutlich, dass Goodenoughs Einschätzung, die Legatio sei "definite political propaganda" [10], zumindest erwogen werden muss. Leg. 349-73 und Acta Isidori weisen bis in Motivik und Textgestaltung auffallende Parallelen auf, womit man sie kaum anders denn als publizistische Bemühungen um Deutungshoheit der Ereignisse und Rechtfertigung der eigenen politischen Ziele auffassen kann, zumal beide entstanden als deutlich wurde, dass der status-quo-Entscheid des Claudius, wie ihn P.Lond. 1912 überliefert, die Probleme nur vertagte.
Der Wert des Buches wird dadurch keineswegs verringert. Es trägt bei, eine Forschungslücke zu schließen und den intellektuellen Austausch zwischen Rom und Alexandria im 1. Jh. n.Chr. weiter zu erhellen.
Anmerkungen:
[1] P.W. van der Horst: Chaeremon. Egyptian Priest and Stoic Philosopher. The Fragments, Leiden 1984; T. Göransson: Albinus. Alcinous. Arius Didymus, Göteburg 1995. P.M. Fraser: Ptolemaic Alexandria, Oxford 1972 (ND 1998), Bd.1, 806-12. Beispiele: J. Glucker: Antiochus and the Late Academy, Göttingen 1978, 13-31. Ob der amicus Areios Didymos und der Doxograph identisch sind, ist unsicher seit Göransson, a.a.O.; M. Baltes, Göttinger Gelehrte Anzeigen 248 (1996), 91-111; W.L. Gombocz: Geschichte der Philosophie, Bd.4: Die Philosophie der ausgehenden Antike und des frühen Mittelalters, München 1997, 415 n.2. Nichtsdestotrotz war der amicus Areios Alexandriner und Philosoph.
[2] K. Praechter: Grundriss der Geschichte der Philosophie (Überweg), Bd.1: Altertum, Berlin 1920, 600-3; W. Theiler: Philo von Alexandrien und der Beginn des kaiserzeitlichen Platonismus, Frankfurt 1965; M. Erler: Grundriss ... (Überweg), Bd. 2.2: Platon, Basel 2007, 528; H. Dörrie / M. Baltes: Der Platonismus in der Antike (Bausteine), 8 Bde., Stuttgart 1987-2008, no.115.2; 129.3; 137.1-2; 141.1; 143.1; 193.1. Stoisches: D. Winston: Grundriss ... (Überweg), Bd. 5.1, Basel 2018, 729-53; 759-65.
[3] Praechter, a.a.O., 598-600. Niehoff listet sie ebenfalls unter "Philo works in Alexandria in the context of the Jewish community" (245), doch verändert die später angesetzte Zäsur die Gewichtung.
[4] Der Herkunftsort des Thrasyllos aus Diog. Laert. 3,56-61 ist nicht belegt. Ob er identisch mit Thrasyllos von Mendes ist, ist umstritten, ihn nach Alexandria zu verorten, Vermutung. Daher H. Tarrant: Thrasyllan Platonism, New York 1993, 7; PIR 2 T 190: "diversus est a Thrasyllo Mendesico". Gegen Niehoff (78; 221).
[5] Platon: P.Oxy. 23-4; 228-9; 454-6; 843; 881; 1016-7; 1248; 1624; 1808-9; 2102; 2468; 2662-3; 2751; 3156-7; 3326; 3666-83; SB 15875. Thrasyllos: P.Oxy. 4941. Empfehlungsschreiben eines Epikureers: 3643. Aristoteles: 666; 2402-3. Theophrast: 699.
[6] J.M. Dillon: The Middle Platonists 80 B.C. to A.D. 220, Ithaca 1996; P. Steinmetz: Grundriss ... (Überweg), Bd. 4: Hellenistische Philosophie, Basel 1994, 710-4. Suda A 1128 [ADLER].
[7] Steinmetz, a.a.O., 660.
[8] Glucker, a.a.O., 13-8; 64-88; H. Dörrie / M. Baltes, a.a.O., Bd. 1, 436-89.
[9] Ereignisse: S. Gambetti: The Alexandrian Riots of 38 C.E. and the Persecutions of the Jews, Leiden/Boston 2009. Interpretationen: W. Ameling, Würzburger Jahrb. f. Altertumswiss. 27 (2003), 71-123.
[10] E.R. Goodenough: An Introduction to Philo Judaeus, Oxford 2 1962, 59.
Stefanie Holder