Rezension über:

Caroline Vout: Classical Art. A Life History from Antiquity to the Present, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2018, XI + 359 S., 80 Farb-, 132 s/w-Abb., ISBN 978-0-691-17703-8, GBP 30,00
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Rezension von:
Luca Giuliani
Wissenschaftskolleg zu Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Luca Giuliani: Rezension von: Caroline Vout: Classical Art. A Life History from Antiquity to the Present, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2018, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 9 [15.09.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
/2019/09/32815.html


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Caroline Vout: Classical Art

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Dieses Buch von Caroline Vout untersucht die materiellen und intellektuellen Prozesse, in deren Verlauf eine bestimmte Auswahl antiker Werke als klassisch kanonisiert wurde. Unter Life History versteht Vout das, was man auf Deutsch als Nachleben bezeichnen würde. Alles Klassische ist immer das Resultat einer komplexen Rezeption und hat im Lauf der Zeit auch unterschiedliche Erscheinungsformen angenommen: "The 'classical art' of today's textbooks and galleries is different from the 'classical art' of the nineteenth century, which is different again from the 'classical art' of the Renaissance or of antiquity" (VIII). Die genannte Paradoxie lässt sich auf einen einfachen Nenner bringen: Der Wertbegriff des 'Klassischen' impliziert eine Geltung, die jenseits von zeitbedingten Moden liegt; dennoch ist das, was unter dem Klassischen verstanden wird, einem augenfälligen Wandel unterworfen. Vout will diesen Wandel beschreiben und ihn in seiner Dynamik erklären. Kaum problematisiert wird der Kunstbegriff selbst; Vout übersetzt die antiken Begriffe téchnē oder ars umstandslos mit 'art' - auch wenn sie natürlich weiß, dass dieser moderne Kunstbegriff erst im frühen 18. Jahrhundert entstanden ist. Für die vorliegende Untersuchung ist das vergleichsweise unproblematisch: Sie behandelt keinen abstrakten Kunstbegriff, sondern ganz konkrete Objekte, hauptsächlich Werke der Plastik.

Es liegt nahe, das Buch mit dem Klassiker von Francis Haskell und Nicholas Penny zu vergleichen. [1] Anders als Haskell & Penny setzt Vout nicht erst in der Frühen Neuzeit ein, sondern bereits im Hellenismus. Sie thematisiert ausführlich den römischen Umgang mit griechischen Werken, berücksichtigt auch Spätantike sowie Mittelalter und reicht bis in die unmittelbare Gegenwart. Auch geht es bei ihr weniger um einzelne, kanonisch gewordene Werke, als um die Praxis des Sammelns insgesamt - eine Praxis, die allerdings immer auch zeitspezifische Sehweisen und Wissenskonfigurationen voraussetzt. Vout überwindet mit souveräner Eleganz den fachlichen Abstand zwischen griechisch-römischer Archäologie, Philologie und Kunstgeschichte und zielt auf eine umfassende Darstellung: "We will attempt to navigate the detail and capture the landscape" (97). Ihre Stärke liegt weniger in der Klärung von Begriffen oder im Herauskristallisieren scharfer Thesen als im Entwerfen eines Gesamtbildes, das einerseits impressionistisch-facettenreich anmutet und sich andererseits nicht selten zu aphoristischen Sentenzen verdichtet, die man nicht mehr vergisst; so heißt es etwa von Venedig nach der Eroberung von Konstantinopel im vierten Kreuzzug 1204: "Loot had to become beauty and, in time, beauty became scholarship" (92). Gerade der Facettenreichtum des Buches macht eine Zusammenfassung auf zwei Seiten unmöglich. Ich beschränke mich im Folgenden auf wenige Stichworte.

Wir wüssten von griechischer Kunst herzlich wenig, hätten sich die antiken Römer nicht so intensiv dafür interessiert. Aber diesem Interesse lag ein double bind zugrunde: Einerseits galt die Beschäftigung mit und der Besitz von griechischen Kunstwerken als ein moralisch anrüchiger Luxus, der von ernsten Tätigkeiten ablenkte und die Sitten zu korrumpieren drohte (45-50); auf der anderen Seite wurde ein gewisses Maß an Kunstkennerschaft - spätestens seit der mittleren Kaiserzeit - durchaus positiv bewertet: Der gebildete Mann trägt sein ästhetisches Urteilsvermögen gerne zur Schau (51-63). Vout betont "these dual ideas of connoisseurship and corruption" (52) und setzt bei deren Gegensätzlichkeit an, um die Produktion römischer Marmorkopien nach griechischen Bronzevorbildern zu erklären. Diese erlaubt es dem römischen Kenner auf den - moralisch anrüchigen - Besitz griechischer Originale zu verzichten; stattdessen hält er sich an Kopien und weiß deren Detailtreue, im Einzelfall aber auch deren Abweichung vom berühmten Vorbild zu goutieren. "'Copying' meant 'bottling' the essence of hellenic greatness" (60). Die Tätigkeit römischer Kopisten interpretiert Vout als den erfolgreichen Versuch, griechische Kunst zu romanisieren und deren Stil im neuen kulturellen Kontext verfügbar zu machen: "Greek style was theirs to use as they wanted, had been for some time; eclectically, discerningly, practically" (64).

Im Kapitel über die Rezeption der Antike in der italienischen Renaissance (97-124) verliert Vout nur wenige Worte über die berühmte Statuensammlung im vatikanischen Belvedere-Hof; sie lenkt den Blick lieber auf weniger bekannte Beispiele wie die Sammlungen des Prospero Colonna in Rom, des Diomede Carafa in Neapel oder der Isabella d'Este in Mantova. Eindrücklich schildert Vout, wie nach und nach ein vergleichendes, analytisches Sehen eingeübt wurde. Vout schätzt die bunte Vielfalt der Phänomene; Unterscheidungen, die ihr allzu schematisch scheinen, lehnt sie ab. Das gilt auch für die jüngst von Miranda Marvin vorgeschlagene Unterscheidung zwischen Sammlungen von Fürsten und Sammlungen von Antiquaren [2]: Fürsten bewegen sich im oberen Preissegment, bevorzugen Gemmen, Kameen und Skulpturen; Antiquare hingegen sammeln mit Vorliebe preisgünstige Objekte wie Münzen, Inschriften und Terrakotten. Ohne Marvin an dieser Stelle explizit zu nennen, hält Vout dagegen fest: "This is not a simple story of cardinals and dukes preferring sculpture, and 'antiquarians' [...] preferring coins and inscriptions" (112). Freilich, es gibt Mischformen: Aber Marvins idealtypische Unterscheidung bleibt außerordentlich hilfreich, wenn man Strukturen erkennen möchte; wenn man darauf verzichtet, läuft man Gefahr, manchmal vor lauter Bäumen den Wald aus dem Blick zu verlieren.

Der letzte Satz des Buches lautet: "Classical art has plenty left to say. Let us not let our search for certainties stifle it" (245). Ist diese Warnung berechtigt? Die Suche nach (vorläufigen) Gewissheiten und das Abwägen von Argumenten pro und contra machen das Wesen der Wissenschaft aus; sie haben unsere Vorstellung dessen, was Vout als 'classical art' bezeichnet, unaufhörlich erweitert und bereichert; ich sehe keinen Anlass zur Befürchtung, dass davon eine erstickende Wirkung ausgehen könnte. Lohnend finde ich hingegen die Frage, wie Vout selbst sich zu ihrem Gegenstand positioniert. Was sie bietet, ist eine Geschichte des Klassizismus, genauer: der Klassizismen. Was für eine Absicht liegt dem zugrunde? Eine Geschichte der Klassizismen könnte geschrieben werden, um deren Geltungsanspruch zu dekonstruieren, ihn ad acta zu legen und eine freiere Sichtweise zu gewinnen; aber sie könnte auch umgekehrt die klassizistische Tradition nachzeichnen, um diese zu stärken und sie im heutigen Kontext wieder anwendbar zu machen. Man versteht die von Vout in diesem Buch verfolgte Absicht besser, wenn man nach Stellen sucht, an denen sie ästhetische Urteile fällt. Ich nenne nur zwei. Beim so genannten Tivoli-Feldherrn, einer der bekanntesten Porträtstatuen der römischen Republik, beklagt Vout "the oddity [...] of seeing a Roman general playing at dressing up, his veristic head pearched indecorously on a princely hellenistic torso" (44). Die Kombination des auf Wiedererkennbarkeit ausgerichteten Porträts mit einem athletischen Körper dürfte weder dem Auftraggeber noch dem intendierten Publikum seltsam (odd) oder unschicklich (indecorous) erschienen sein: Das von Vout gefällte Urteil folgt neuzeitlich-klassizistischem Geschmack. Noch deutlicher wird diese Tendenz, wenn Vout an den Figuren des Großen Frieses von Pergamon eine "exaggerated [...] physicality" diagnostiziert, die diese beinahe aus dem Fries heraussprenge: "Any more inflated and they would break from their blocks, and lie in fragments. They could not be more extreme: there was now only one direction for Greek sculpture to go - backward" (29). Die Formulierung klingt spielerisch und ironisch, aber das Werturteil ist unmissverständlich: Der Große Fries ist für Vout eindeutig nicht Bestandteil dessen, was sie als 'classical art' gelten lässt; seine Formensprache markiert eine Krise - und eine Sackgasse; um aus ihr herauszufinden mussten die griechischen Bildhauer sich wieder auf die Werte der Klassik besinnen. Das erinnert ganz unmittelbar an die berühmte Formulierung des älteren Plinius: "cessavit deinde ars ac rursus olympiade CLVI resurrexit". [3]

Caroline Vout hat eine Geschichte der Klassizismen aus dem (zu meiner Überraschung nach wie vor lebendigen) Geist des Klassizismus geschrieben; nicht zuletzt darin liegen die (unzeitgemäße?) Eigenart und der Charme dieses Buches. Aber mit dem Urteil 'unzeitgemäß' könnte ich mich täuschen: Die Zeiten haben sich vielleicht bereits gewandelt.


Anmerkungen:

[1] Francis Haskell / Nicholas Penny: Taste and the Antique: the Lure of Classical Sculpture, 1500-1900, New Haven 1981.

[2] Miranda Marvin: The language of the Muses. The dialogue between Roman and Greek Sculpture, Los Angeles 2008, Kap. 4 und 5.

[3] Plinius: Naturalis historia 34,52.

Luca Giuliani