Rezension über:

Dietrich Raue (ed.): Handbook of Ancient Nubia (= De Gruyter Reference), Berlin: De Gruyter 2019, XX + 1111 S., zahlr. Farbabb., ISBN 978-3-11-041669-5, EUR 249,00
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Rezension von:
Francis Breyer
Universität Bonn
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Francis Breyer: Rezension von: Dietrich Raue (ed.): Handbook of Ancient Nubia, Berlin: De Gruyter 2019, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 9 [15.09.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
/2019/09/32839.html


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Dietrich Raue (ed.): Handbook of Ancient Nubia

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Mit seinem "Handbook of Ancient Nubia" hat Dietrich Raue eine Gesamtdarstellung der Sudanarchäologie vorgelegt, das sich zum Ziel setzt, die großen Linien in der Entwicklung der Kulturen Nubiens umfassend nach der neuesten Forschung darzustellen. Dies ist in hohem Maße gelungen.

Die beiden Bände mit zusammen über 1000 Seiten versammeln 44 Kapitel von fast 50 Autoren und ist in vier Bereiche gegliedert: Auf einen allgemeinen Teil mit Übersichten zu den Grundfaktoren wie Geologie, Topographie oder Archäozoologie/-botanik folgend wird der ältere Abschnitt der nubischen Geschichte behandelt, also von der Altsteinzeit bis zum Ende der ägyptischen Kolonialzeit um 1100 v.Chr. Der dritte Teil behandelt die Kulturen Nubiens von der Kuschitenzeit an (ab etwa 700 v.Chr.) inklusive dreier Kapitel zum christlichen und islamischen Nubien. Teil vier ist neueren Forschungen in den Randgebieten gewidmet.

Im Vorwort heißt es: "This volume intends to be an update of all historical and archaeological studies ever persued on Nubian topics, and not a full presentation." Diese Selbstdefinition steht in gewissem Widerspruch zum Titel. Von einem Handbuch erwarte man nämlich gerade Vollständigkeit. Gravierender ist, dass die philologisch-historischen Aspekte überhaupt nicht vorkommen. Wie kann es sein, dass der Leser auf 1111 Seiten mit keiner Silbe erfährt, dass in den letzten Jahren die historische Chronologie der Kuschitenzeit durch Michael Bányai geradezu umgekrempelt wurde und darüber eine intensive Debatte entbrannt ist? [1]

Leider ist das Werk zudem für den Nichtfachmann nur sehr eingeschränkt nutzbar - zu groß ist allein schon die terminologische Disparität. Wie soll ein Althistoriker oder ein Klassischer Archäologe herausfinden, dass die Kapitelautoren dieses Handbuchs mit ein und demselben Begriff Unterschiedliches und zugleich denselben Sachverhalt mit verschiedenen Begriffen bezeichnen, wenn dies nirgends erklärt wird und es am Ende oder Anfang des Werkes kein Schaubild o.ä. gibt?

So schließt für Angelika Lohwasser und Timothy Kendall "napatanisch" die "Kuschitenzeit" mit ein; Derek Welsby jedoch bezeichnet offenbar alles Nubische zwischen dem 7. Jahrhundert v. und dem 4. Jahrhundert. n. Chr. als "kuschitisch", dabei bedeutet dieser Begriff für den Linguisten noch einmal etwas ganz anderes. Warum aber muss man es dem Leser ohne Not derart schwer machen? Es wäre sinnvoll gewesen, entweder in der Einleitung auf die verworrene Terminologie hinzuweisen oder noch besser die Autoren durch Vorgaben zur Einheitlichkeit zu bewegen.

Noch bedauerlicher ist, dass m.E. eine ganz große Chance vertan wurde: Raue hätte den Mut haben sollen, hinsichtlich der Periodisierung zu einem neuen Standard zu gelangen, vor allem, da er die Problematik explizit thematisiert. Auf Seite 293 (warum nicht schon in der Einleitung?) spricht er an, warum der Leser altvertraute Kategorien wie die A- oder C-Gruppe im Inhaltsverzeichnis nicht mehr vorfindet. Nun mag die Terminologie in der Tat durch den Forschungsstand überholt worden sein, allein: Das Kind muss einen Namen haben! Es macht wenig Sinn, Zeitabschnitte immer nur entweder zu beschreiben oder sie in Jahreszeiten auszudrücken (z.B. bei den Absatzüberschriften wie "1950/1850-1700 BC: Life in the Shadow of the Fortresses", 305.). Überhaupt erfährt der Leser nur selten, warum denn nun genau hier eine Zäsur angesetzt wird, im gewählten Beispiel bleibt dem Fachfremdem sogar verborgen, warum hier ein Schrägstrich steht (1950/1850). All diese Dinge mögen den Spezialisten keine Mühe bereiten, dem Außenstehenden bleiben sie ein Rätsel. Bei genauem Lesen vermeint man zu ahnen, dass Raue selbst für sich eine entsprechende Terminologie gefunden hat und sie praktiziert, nur wird dies nicht ausgeführt. So fragt man sich etwa, was genau er denn nun unter "Late Middle Nubian horizon" versteht. Ist das Mittelnubisch in Abgrenzung zu Alt- und Spätnubisch oder ist das Mittelnubisch zwischen Unter- und Obernubien?

Wie uneinheitlich der Band ist, zeigt sich am ehesten an den Karten. Manche sind wirklich hervorragend (201; 218), andere unbrauchbar winzig (787). Besonders störend ist, dass die Karte in dem einleitenden Kapitel zur Topographie und regionalen Geographie Nubiens (40) deutlich zu wünschen übriglässt. So fehlt hier die Ostsahara und der Südostsudan. Beides hätte man aufgrund der neuen Forschungen genauso eingehend vorstellen müssen wie das Niltal und dieses nicht nur bis Khartum. Des Weiteren ist die Karte nicht mit dem recht gelungenen Text des Kapitels kongruent.

Äußerst positiv sind die wunderbaren Literaturübersichten in Tabellenform, etwa diejenige zur physischen Anthropologie nubischer Fundorte (117ff.), zur Archäobotanik in Nubien (86ff.) oder zu den Tempeln des Neuen Reiches (528ff.) und den napatanischen Friedhöfen (628ff.). Dieses Konzept hätte man ruhig vereinheitlichen können.

Überhaupt ist die Auswahl der Themen manchmal etwas unsystematisch. Warum gibt es Kapitel zu den Siedlungen aus napatanischer und meroitischer Zeit, aber keines zu den Siedlungen des christlichen Nubien? Wenn es hierzu wenig gibt, will man aber dieses umso dringender hier versammelt finden. Warum gibt es einen zweifellos sehr interessanten Beitrag zu nubischen Lederarbeiten, aber keinen zur Eisenverarbeitung in Meroe oder zu Tonfigurinen? Warum ist der Cachette von Dukki Gel ein eigenes Kapitel gewidmet, dem Wadi Howar jedoch nicht?

Bei vielen Autoren ist das Bemühen sehr deutlich spürbar, einen konzisen und umfassenden Überblick über die jeweilige Thematik zu bieten. Gelungen scheinen mir die jeweiligen Kapitel zu den Siedlungen, den Bestattungssitten oder den Tempeln zu sein.

Ganz besonders hervorheben möchte ich jedoch neben den Kapiteln zur Prähistorie von Heiko Wiemer & Karin Kindermann und Matthieu Honegger die Beiträge von Maria Carmela Gatto (259-291) und Dietrich Raue (293-333). Beiden Autoren ist es hier wirklich gelungen, die ganz großen kulturellen Entwicklungen in Nubien über die Jahrtausende nachzuzeichnen.

Lobend erwähnt sei auch, dass nicht nur der islamischen Archäologie Nubiens ein umfangreiches Kapitel gewidmet wird (David Edwards), sondern auch der Peripherie westlich (Darfur, Kordofan, Nuba-Berge) und südlich (Gezira, Sudd) des Mittleren Niltals (Adrian Chlebowski & Mariusz Drzewiecki).

Natürlich gibt es auch Kapitel, die weniger gelungen sind. So fällt etwa der Beitrag von Steffen Wenig zur meroitischen Kunst etwas hinter den Erwartungen zurück - zur Ikonographie der meroitischen Könige erfährt man hier zum Beispiel so gut wie nichts. Ein Kapitel zur Kunst der napatanischen Zeit und der Kuschitenzeit sucht man übrigens vergebens. In weiten Teilen für den Nicht-Geologen vollkommen unverständlich ist bedauerlicherweise das Kapitel zu den Rohstoffen von Dietrich und Rosemarie Klemm & Andreas Murr.

Gewisse Kritik muss auch an dem Überblick zur Sprache geäußert werden. Claude Rilly vermittelt hier oft den Eindruck, als seien seine Einzelmeinungen allgemein anerkannte Fakten, dabei ist gerade hier sehr viel extrem umstritten und hängt an seidenen Fäden. Dass man in Kerma Meroitisch sprach, ist keineswegs so klar, wie Rillys Deutung der Namen auf dem Papyrus Moskau 314 suggeriert (139). Dass Thomas Schneider dieselben Namen mindestens genauso überzeugend berbersprachlich erklärt hat, [2] wird nicht einmal erwähnt. Rhrhs ist kein Lallwort wie 'Barbar', sondern bedeutet "die Bitterarmen" auf Bedauye. [3] Rilly zitiert auch wichtige Literatur nicht, etwa zum ersten Nachweis von Sprechern nubischer Sprachen [4] oder die neuen Thesen zum nilo-saharanischem Wortgut in ägyptischen Texten (Schneider 2010, 2011; Cooper 2017). [5]

Schließlich seien noch einige allgemeine Bemerkungen erlaubt. Warum das Handbuch in englischer Sprache erscheint, ist nicht wirklich verständlich. Das Fach ist heute noch größtenteils deutschsprachig geprägt und die Hälfte der Autoren hat Deutsch als Muttersprache. Wenn deren Englisch wenigstens stilsicher wäre, doch einige Kapitel wurden ganz offensichtlich nie von einem Muttersprachler gelesen. Wie fast immer, wenn nach dem Harvard-System zitiert wird, gibt es blinde Verweise (Friedman 2007 auf 302 und Markowitz/Doxey 2014 auf 634).

Zusammenfassend kann ich sagen, dass trotzdem der Rezensent in den letzten Jahren von der Lektüre nur weniger Bücher derart profitiert hat. Es stellt ein sehr brauchbares Kompendium der Sudanarchäologie dar, das gerade für eher philologisch geprägte Ägyptologen von besonderem Nutzen sein wird.


Anmerkungen:

[1] M. Bányai: Ein Vorschlag zur Chronologie der 25. Dynastie in Ägypten, in: Journal of Egyptian History 6 (2013), 49-133.

[2] T. Schneider: Ausländer in Ägypten während des Mittleren Reiches und der Hyksoszeit, Wiesbaden 2003.

[3] F. Breyer: Einführung in die Meroitistik, Berlin 2014, 198.

[4] K.-H. Priese: Stellungnahme zu Adams, Meroitic North and South, in: Meroitica 2 (1976), 81-88; P. Behrens: C-Group-Sprache - Nubisch - Tu Bedawiye. Ein sprachliches Sequenzmodell und seine geschichtlichen Implikationen, in: Sprache und Geschichte in Afrika 3 (1981), 17-49; I. Hofmann: C-Gruppen-Sprache und Nobiin, Göttinger Miszellen 1983, 39-43; I. Hofmann / H. Tomandl / M. Zach: Beitrag zur Geschichte der Nubier, in: Meroitica 10 (1988), 269-298.

[5] T. Schneider: The West Beyond the West. The Mysterious "Wernes" of the Egyptian Underworld and the Chad Palaeolake, in: Journal of Ancient Egyptian Interconnections 2-4 (2010), 1-14;

T. Schneider: Egypt and the Chad. Some Additional Remarks, in: Journal of Ancient Egyptian Interconnections 3-4 (2011), 12-15; J. Cooper: Some Observations on Language Contact between Egyptian and the Languages of Darfur and Chad, in: Der antike Sudan 28 (2017), 81-85.

Francis Breyer