Brendan Simms: Die Briten und Europa. Tausend Jahre Konflikt und Kooperation. Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt, München: DVA 2019, 397 S., ISBN 978-3-421-04842-4, EUR 28,00
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Kann die Aktualität des neuen Buches von Brendan Simms kaum übertroffen werden, so wird es gewissermaßen auch von ihr getrieben. Lapidar erklärt der Verlag nicht nur den englischen Originaltitel und sein Erscheinungsdatum von 2016, sondern überdies, dass Kapitel zehn, mithin das letzte, "aufgrund aktueller Entwicklungen durch einen neuen Text des Autors ersetzt" worden sei. Weil dieses in jeder Hinsicht so ausgezeichnete, gelehrte und sehr angenehm geschriebene Buch dankenswerter Weise auch als e-Book erhältlich ist, wird seine zwangsläufig fortwährende Aktualisierung wohl etwas leichter gemacht. Zwangsläufig deshalb, weil ein Thema wie das des Brexit die britische und die europäische Politik in den vergangenen Jahren nachgerade konkurrenzlos dominiert hat und nichts daraufhin weist, dass sich dies mittelfristig ändern wird. Weil der Ausstieg des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union nach wie vor schwierig abzusehende Folgen haben wird, ist die historische Befassung mit den Beziehungen zwischen "Insel" und "Kontinent" so wertvoll.
Nun ist der in Cambridge lehrende Simms ein intimer Kenner sowohl der britischen als auch der europäischen und im Besonderen der deutschen Geschichte. Nachdrücklich weist er darauf hin, dass bei aller Bedeutung der wirtschaftlichen Fragen, die immer wieder im Mittelpunkt der Debatten stehen, selbstverständlich auch außen- und sicherheitspolitische Aspekte mehr Berücksichtigung finden müssten. Tief verankert sei die britische Geschichte in der europäischen, was nicht zuletzt mit einem prinzipiellen Sicherheitsbedürfnis in mehrere geographische Richtungen zu erklären ist: die Einbindung Schottlands (1707) und Irlands (1801) in die Union diente der gleichen Stabilisierung wie die Abwehr einer Hegemonialmacht, sei sie spanischer, französischer oder im 20. Jahrhundert deutscher Natur. Das Gleichgewicht der Mächte auf dem europäischen Kontinent sei insofern auch für die innere Verfassungs- und Institutionengeschichte Großbritanniens von großer Bedeutung gewesen.
Denn trotz einer vergleichsweise geringeren Landmasse und kleineren Bevölkerungszahl sei es England spätestens seit dem Bürgerkrieg im 17. Jahrhundert gelungen, erstens seine Interessen in Europa zu behaupten und zweitens seine politischen Institutionen inklusive einer starken öffentlichen Meinung so zu festigen, dass drittens eine prosperierende Wirtschaft und früh einsetzende Industrialisierung die Grundlagen dafür legten, das Britische Empire nach 1815 zur weltweit stärksten Kolonialmacht aufsteigen zu lassen. Zudem ist der Punkt, dass das Empire auch ein europäisches, vor allem ein mediterranes (Gibraltar, Malta, Zypern) war, nicht zu unterschätzen. Die enge Bindung zwischen den Briten und Europa bildet sich schließlich durch ihre große Zahl ab, die ihren Lebensmittelpunkt jenseits des Ärmelkanals gefunden haben. Und das betrifft nicht nur die britischen Rentner im Süden Spaniens. Doch umgekehrt ist die Zahl kontinentaleuropäischer Arbeitsuchender in Großbritannien und die Zahl derjenigen, die dort ihren Lebensmittelpunkt haben, ebenfalls stabil hoch geblieben.
Simms warnt in diesem Zusammenhang nicht zu Unrecht davor, Großbritannien aus Brüsseler Perspektive zu unterschätzen. Wirtschaftliche und militärische Stärke, diplomatische und strategische Positionen weltweit würden nach wie vor dafür sorgen, dass britische Vorstellungen von einer (wirtschaftlichen) Ordnung der Welt und kontinentaleuropäische nicht allzu leicht auf einen Nenner zu bringen sind. Spätestens in den Kapiteln dieses Buches, in denen Simms zur unmittelbaren Zeitgeschichte kommt und Großbritannien als "die letzte europäische Großmacht" bezeichnet, drängt er von der historischen zur politischen Positionierung. Man wird diese Spannungsfelder gleichwohl mindestens in viktorianischen Debatten wiederfinden, wenn nicht bereits früher, deren Kernfrage darin bestand, ob Großbritannien sich nach Europa hin orientieren solle oder auf sein Kolonialreich.
Die Empire-Befürworter mussten deshalb nicht unbedingt Anti-Europäer sein, doch ihre Konzentration auf die überseeischen Gebiete ging von der kulturellen Konstruktion eines "Greater Britain" aus, nach der Kapstadt und Sydney der Londoner Metropole gleichermaßen nah waren wie Glasgow und Dublin, jedenfalls aber deutlich näher als jegliche kontinentaleuropäische Städte. Trotzdem haben sich diese Stimmen zu keiner Zeit wirklich durchgesetzt bzw. durchsetzen müssen, solange eine gewisse Selbstverständlichkeit des Empires den Wert Europas für Großbritannien nicht in Abrede stellte. Erst mit seinem Verlust im Zeichen der weltweiten Dekolonisation änderte sich dies und die allmähliche Annäherung der Briten an Brüssel bzw. ihre zunächst gescheiterten Versuche waren ein Spiegelbild dessen, wie kompliziert das Verhältnis werden sollte. Nach Brendan Simms aber tut Europa gut daran, sich zwar durchaus der Konflikte, insbesondere jedoch der Kooperationen diesseits und jenseits des Kanals mit einem langen historischen Atem zu vergewissern. Letzten Endes seien es stets die Britischen Inseln gewesen, die in europäischen Krisenzeiten die notwendige Balance wiederhergestellt hätten. Plädiert dieses perspektivenreiche und wichtige Buch also auch für politisches Vertrauen, so vor dem Hintergrund, dass dies ohne ein Verständnis der historischen Verflechtungen nicht tragfähig wäre. Was wäre ihm anderes zu wünschen als seine Übersetzung in viele weitere europäische Sprachen?
Benedikt Stuchtey