Rezension über:

Jürgen Strein: Wissenstranfser und Popularkultur in der Frühaufklärung. Leben und Werk des Arztschriftstellers Christoph von Hellwig (1663-1721) (= Frühe Neuzeit. Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext; Bd. 208), Berlin: de Gruyter 2017, VIII + 271 S., ISBN 978-3-11-053461-0, EUR 79,95
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Rezension von:
Martin Gierl
Lichtenberg-Kolleg, Universität, Göttingen
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Martin Gierl: Rezension von: Jürgen Strein: Wissenstranfser und Popularkultur in der Frühaufklärung. Leben und Werk des Arztschriftstellers Christoph von Hellwig (1663-1721), Berlin: de Gruyter 2017, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 12 [15.12.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
/2019/12/31578.html


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Jürgen Strein: Wissenstranfser und Popularkultur in der Frühaufklärung

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Bei Jürgen Streins Heidelberger Dissertation von 2015 handelt es sich um eine kommentierte Bibliografie. Das klingt abfällig. Tatsächlich ist Streins Buch eine Art Hellwig-Lexikon und damit ein Glücksfall. Der Hellwig-Experte Strein, der seit 2003 zum Tennstedter Stadt-Physikus, dann Erfurter Medikamentenversandbetreiber und medizinischen Sachbuchautor publizierte, bringt, was man zu Hellwig und seiner Publizistik weiß, auf den Punkt.

Im ersten Teil kümmert er sich um Forschungsstand, Leben, Werk und Verfasserfragen. Er zeigt, womit man es bei Hellwig, diesem literarischen Phänomen der Frühaufklärung, zu tun hat. Der Publizist, der, nach Auflagen und Erweiterungen gerechnet, Hunderte medizinischer Kompilationen muttersprachlich auf den sich entfaltenden literarischen Markt warf, dabei Interesse, Bedarf und Not der Leserschaft befriedigte, der übersetzte, neu herausgab, plagiierte, und dabei medizinisch Wissenswertes in Informationswerkzeuge wie Kompendien, Serien, Lexika umsetzte, agierte als publizistischer Einmann-Betrieb für einen sich entfaltenden publizistischen Apparat. Hellwig brachte Kunde und Kundschaft zusammen. Dem assoziativen Denken der Frühen Neuzeit verpflichtet, die Astrologie, Chymie, Pharmazie, Mineralogie in medizinische Wechselwirkung setzte, gab Hellwig Werke und Übersetzungen der alchemistischen Kosmologie seines Bruders Johann Otto von Hellwig, der "Lebensgeister"-Medizin Sebastian Wirdigs oder der "Alchemia practica" Konrad Khunraths heraus. Johann Schröders Standardarzneibuch, insbesondere in der deutschen Bearbeitung Georg Daniel Koschwitzs, diente ihm in pharmazeutischen Fragen als Quelle und Vorbild. Hellwigs größter Publikationserfolg war die Erstausgabe des Hundertjährigen Kalenders Mauritius Knauers 1700, den er in den Folgejahren immer wieder neu erscheinen ließ.

Strein ordnet Hellwig in die Landschaft medizinischer Positionen ein und wendet sich dann den Besonderheiten seiner literarischen Produktion zu: Hat man es mit einem "Berufsschriftsteller" zu tun (66)? Dem Anschein nach ja, aber es liegen keine Informationen über Hellwigs Honorare vor. Wie verfährt der Medizinvermittler Hellwig mit dem gelehrten Latein, insbesondere bei den Übersetzungen, die er herausgebracht hat? Er doppelt, setzt lateinische Passagen, manchmal Satzfetzen, in seine Übersetzung hinein, als sei das Deutsche eine Lesehilfe des Lateinischen und das Lateinische eine Lesehilfe des Deutschen. Was heißt das überhaupt: popularisierender Sachtext in der Zeit um 1700? Hier spricht Strein Dreierlei an, was die Frage der Textbeschaffenheit und der Autorenschaft charakterisiert. 1) Am Beispiel des Hundertjährigen Kalenders den Sachtext als "offenen Text", der von Edition zu Edition verändert, erweitert, reduziert wird mit eigenen Zusätzen und Zusätzen anderer Provenienz (77). 2) "Additive Textkonstitution" (85), d.h. weniger ein eklektisches Wählen als ein enzyklopädisches Aufbieten und Mischen des Vorhandenen, auch über Widersprüche und kategoriale Unverträglichkeiten hinweg, das paracelsische Richtlinien neben galenische und Pharmazie noch neben Zauberformeln setzt. 3) Eine Textverfasserschaft, die man in Anlehnung an die Punkte 1 und 2 additive resp. offene Autorenschaft nennen könnte. Das bezieht sich auf die Praktiken des Kompilierens, Plagiierens, des kreativ verändernden Übersetzens und Herausgebens, auf das Hinzufügen von Abschnitten zu fremden Werken, oder von Texten anderer Verfasser zu eigenen Werken und - besonders interessant, wie ich meine - auf das Schreiben mehrerer Autoren unter einem fiktiven Namen, der, von einem Verleger eingeführt, zu einem Markenzeichen für eine verlagseigene Sachtextserie wird, wie die medizinische Reihe eines "Valentin Kräutermann", zu der Hellwig einiges, und die Werksreihe eines "Caspar Schröters", zu der Hellwig viel beigetragen hat, der Verleger Niedt, Beumelburg resp. Ritschel.

Auf den 96-seitigen Kommentar zu Hellwigs Schriftstellerei folgt die kommentierte Bibliografie der Einzelwerke, chronologisch, die Kurztitel mit bibliografischen Angaben, Inhaltskennzeichnung und späteren Ausgaben ergänzt. Der Leser erhält die Gesamtschau der Hellwigschen Sachbuchproduktion in ihrer zeitlichen und thematischen Entfaltung. Sieht man von den unter Kräutermann und Schröter erschienenen Werke, den Übersetzungen und Editionen anderer Autoren sowie den Ausgaben des Hundertjährigen Kalenders ab, ergibt sich folgende Liste: Über das Rezeptschreiben 1685, Vom Alkahest 1685, Anti-Cartesius 1686, Die Jungfernkrankheit 1693 (bis hierhin Dissertationen), Sendschreiben vom Honigtau 1699, Frauenzimmer-Apotheke 1700, Kinder-Apotheke 1700, Sendschreiben vom Stein der Weisen 1701, Vom wahren Trinkgold 1702, Anmutige Berg-Historien 1702 [Mineralien und ihre medizinische Anwendung], Sendschreiben vom Opium 1703, Neuer Tiergarten 1703 [Lexikon der Tiere, auch deren medizinische Verwendung], Von der Universalmedizin 1704, Beschreibung seltener und schöner Dinge 1704 [pflanzliche und chemische Prozesse, Rezepte], Vom Theriak und Mithridat 1704, Von kalten Fiebern und vom Merkurialgold 1704, Arznei der Armen 1708, Apotheker-Lexikon 1709, Chirurgia in nuce 1709, Medizinische Praxis 1710, Anmerkungen zu medizinischen Dingen 1711, Chymisches Lexikon 1711, Apothekerschatz 1711, Anatomisch-Chirurgisches Lexikon 1711, Beschreibung ausländischer Dinge 1711 [Herkunft medizinischer Fachgegenstände], Haus- und Reiseapotheke 1711, Philosophische Briefe 1712 [Alchemie], Von tödlichen Wunden 1713, Physikalisch-medizinisches Lexikon 1713, Apotheker-Taxe 1714, Pestapotheke 1714, Grund- und Lehrsätze der Medizin 1715, Heimlichkeiten des Frauenzimmers 1715, Rezeptbuch für Männerkrankheiten 1715, ...

Hellwig lieferte Medizin aus Heilmittelperspektive in mehr und mehr enzyklopädischen Dosen, deren literarische Rezepturen sich, Männern, Frauen und Kindern zugeordnet, zwischen Sendschreiben, Kompendium und Sachlexikon, inhaltlich zwischen dem Außerordentlichen und dem Systematischen bewegten. Streins Hellwig Bibliografie deutet an, wie Aufklärung, auch dort, wo sie noch nach dem Stein des Weisen suchte, sich im Behandeln des Bedarfs aus dem Markt heraus literarisch sortierte. Von dieser Warte aus gesehen, hat man es bei der Aufklärung nicht mit Kritik, sondern allgemeiner mit einer neuen Informationszeit zu tun.

So gewinnbringend mir Streins systematisch literarische Perspektive auf Hellwig erscheint, ein kleines Defizit verbleibt. Strein sagt nichts dazu, wie Hellwig, der Stadt-Physikus und Arzneimittelvertreiber, in das sich entwickelnde Medizinalwesen gehört. Die Forschung hierzu ist rege. Eine Einordnung Hellwigs im Medizinbetrieb der Zeit, hätte der literarischen Dimension des Sachautors die Sachdimension hinzugefügt.

Martin Gierl