Rezension über:

Susanne Härtel: Jüdische Friedhöfe im mittelalterlichen Reich (= Europa im Mittelalter; Bd. 27), Berlin: De Gruyter 2017, VII + 419 S., 4 Tbl., 5 Kt., 17 Farbabb., ISBN 978-3-11-053560-0, EUR 99,95
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Rezension von:
Michael Toch
The Hebrew University of Jerusalem
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Voigt
Empfohlene Zitierweise:
Michael Toch: Rezension von: Susanne Härtel: Jüdische Friedhöfe im mittelalterlichen Reich, Berlin: De Gruyter 2017, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 1 [15.01.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/01/32666.html


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Susanne Härtel: Jüdische Friedhöfe im mittelalterlichen Reich

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Das vorliegende Werk ist eine Dissertation von 2015/16 an der Universität Konstanz, ausgezeichnet mit einem Preis des Landkreises Konstanz (1). Der Gegenstand: die Erkundung der "religiösen Differenz zwischen Juden und Christen im hoch-und spätmittelalterlichen Lateineuropa" (4), eigentlich jedoch begrenzt auf das mittelalterliche Deutsche Reich und dessen Geschichtsquellen nichtjüdischer und jüdischer Herkunft. Ausdrückliche Absicht ist es aufzuklären, "in welchen Formen sich die religiöse Differenz damals äußerte und in welchen Situationen sie relevant oder eben auch irrelevant war, was wir bislang kaum genau zu bestimmen wissen" (4). Man beachte die Wendung "oder eben auch", wozu wir gleich kommen. Da die Verfasserin vernünftiger Weise nicht das gesamte christlich-jüdische Verhältnis aufrollen konnte, wurde der jüdische Friedhof als Brennpunkt gewählt. In fünf Kapiteln - Land, Einfriedung, Tote, Steine, Besucher - wird nach einem jeweils gleichen Schema vorgegangen. Die Kapitel sind nach den Begriffen "Visualität", "Praxis", und "Semantik" gegliedert. So zum Beispiel in Kapitel 5, "Steine": "Visualität: die Präsenz der Steine; Praxis: Szenen des Umgangs mit den Grabsteinen; Semantik: Wie werden Steine zu jüdischen Grabsteinen?"

Insgesamt ist der Verfasserin ein intensives Eintauchen in die Problematik und die Quellen zu bescheinigen, auch der hebräischsprachigen, was im deutschsprachigen akademischen Raum keineswegs selbstverständlich ist. Das Ergebnis (auf Seite 354 der "Schlussbetrachtung") lautet: "Orientieren wir uns im Gesamtbefund des überblickten Geschehens an einer gedachten Skala zwischen den Polen der Relevanz und Irrelevanz der Differenz wird deutlich, dass die historischen Akteure insgesamt die jüdisch-christliche Unterscheidung häufiger gering schätzten oder unterließen, als sie hervorzuheben oder überhaupt zu gebrauchen". Und der Schlusssatz des Werkes (ebenda): "Die religiöse Differenz bestand neben anderen Differenzen, und sie war sicherlich nicht immer die wichtigste".

Ein solches Ergebnis erscheint dem Rezensenten als inakzeptabel, aus einer ganzen Reihe von Gründen. Zuerst, weil es nicht wirklich das Ergebnis der Untersuchung ist, sondern eine vorweggenommene Annahme, abzulesen schon in der "Einleitung. Problem und Gegenstand" (3-31). So etwa auf Seite 7: "Die vorliegende Arbeit [...] gibt aber zu bedenken, dass die religiöse Differenz, auf der das stete Augenmerk der modernen Geschichtswissenschaft liegt, in ihrer Bedeutung für die Zeitgenossen auch in den Hintergrund trat." Sodann ist der jüdische Friedhof nicht von den vielfältigen anderen Aspekten jüdischen Lebens in der Mehrheitsgesellschaft zu trennen. Eine falsche Logik erklärt gerade den Friedhof als aussagekräftig, mit einem Argument ex silencio: wenn dieser nicht (in der Sprache der Verfasserin) "beredet" oder "beschwiegen" wird, so sagt sein Zustand nichts zur religiösen Differenz. Dann besteht eine solche also nicht oder nur abgeschwächt, sie "tritt zurück". Denn "zur Sprache gelangte die jüdisch-christliche Unterscheidung in der hebräischen Kommunikation über die Begräbnisstätte also anscheinend nur im spezifischen Fall einer Gefährdung - ansonsten bestand schlechterdings keine Notwendigkeit, sie zu artikulieren" (348). Also, was nicht artikuliert wird, besteht nicht (vielleicht weil es so tief internalisiert ist, vielleicht, weil die Minderheit gelernt hat, nicht alles auszusprechen, was sie berührt). En passant: warum ist die Unterscheidung in der Sprache der Verfasserin immer eine jüdisch-christliche? Wäre es nicht angebrachter (und fairer), in einer so asymmetrischen Grundsituation, deren Spielregeln von der Mehrheit grundsätzlich und aktuell immer wieder von neuem bestimmt wurden, von einem christlich-jüdischen Verhältnis zu sprechen? Damit allein schon wäre die so suggerierte falsche Äquivalenz hinterfragt.

Nach Aussage der Verfasserin ist das Buch eine "geringfügig überarbeitete Fassung" ihrer Dissertation. Man hätte sich etwas mehr Überarbeitung gewünscht, in sprachlicher Hinsicht und auch zur Erleichterung der durchgehend theoriebelasteten Argumentation. So ist die Verfasserin nicht von der Verantwortung für den Text des Klappentextes freizusprechen, der, um es direkt zu sagen, einfach Unsinn ist: das Buch sei ein "Blick in eine multireligiöse Gesellschaft, in der jüdische und christliche Lebensräume zumeist auf selbstverständliche Weise mit- und nebeneinander existierten." Warum nicht gleich eine "deutsch-jüdische Symbiose", ein unendlich oft gebrauchtes Schlagwort, zu dem auch heute noch die Einwände eines Gershom Scholems zu bedenken sind? [1]) Auch wenn der Klappentext, wie anzunehmen, so nicht direkt von der Verfasserin stammt, so zielt er doch genau auf die Grundtendenz des Werkes: nämlich die durchlaufende Bemühung, das christlich-jüdische Verhältnis von dem ihm immanenten Konflikt zu reinigen, die "religiöse Unterscheidung" im Selbstgefühl der Betroffenen weitgehend zu neutralisieren, gewissermaßen weg zu argumentieren. Das beginnt, wie gesagt, mit dem Klappentext, und geht weiter in einer polemisch konstruierten Darstellung des Forschungsstandes, der ein in zweihundert Jahren erarbeitetes konfliktreiches Forschungsverständnis einfach abtut oder ignoriert, zusammen mit unzähligen Aussagen der Zeitgenossen, der betroffenen Juden wie auch der betreffenden Christen. Stattdessen wird auf Randerscheinungen in der Forschung abgehoben. [2])

Diese Grundtendenz begleitet das Werk von Anfang bis Ende, und man hätte sich dringend eine Besprechung der weltanschaulichen Dimension einer solchen Annahme gewünscht. Es hätte gefragt werden können: Hat sie etwas mit der heutigen positiven Bewertung der "multireligiösen Gesellschaft" zu tun, die hier ins Mittelalter zurückprojeziert wird? Ist sie etwa ein Langzeitergebnis der heute fühlbaren Müdigkeit von der Belastung durch das Spannungsverhältnis Nichtjuden-Juden?

Trotz des beeindruckenden wissenschaftlichen Aufwandes, trotz der Durchdringung einer ungemein breiten Quellen- und Literaturgrundlage, ist dies ein fehlgegangener Versuch: nicht weil schlecht gearbeitet wurde, sondern weil eine vorweggenommene Annahme den gesamten Argumentationsgang in Frage stellt.


Anmerkungen:

[1] Gershom Scholem: Wider den Mythos vom deutschjüdischen Gespräch, in: ders.: Judaica 2, Berlin 1970, 7-8.

[2] Etwa auf 6 zu Jonathan Elukin: Living Together, Living Apart, Princeton 2007. Dazu die Besprechung dieses Rezensenten in The Catholic Historical Review 95 (2009), 604-607.

Michael Toch