Rezension über:

Anna Marie Johnson: Beyond Indulgences. Luther's Reform of Late Medieval Piety, 1518-1520 (= Early Modern Studies; 21), Kirksville, MO: Truman State University Press 2017, xii + 227 S., ISBN 978-1-61248-212-5, USD 50,00
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Rezension von:
Christiane Laudage
Nettersheim
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Christiane Laudage: Rezension von: Anna Marie Johnson: Beyond Indulgences. Luther's Reform of Late Medieval Piety, 1518-1520, Kirksville, MO: Truman State University Press 2017, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 1 [15.01.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/01/32887.html


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Anna Marie Johnson: Beyond Indulgences

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Das Lutherjahr 2017 hat zahlreiche Publikationen hervorgerufen, zum Teil von sehr unterschiedlicher Qualität. Als zukunftsfähig wird sich die von der US-amerikanischen Theologin und Historikerin Anna Marie Johnson erweisen, die als Associate Professor of Reformation Church History am Garrett-Evangelical Theological Seminary in Evanston, Illinois lehrt. Sie konzentriert sich in ihrer schmalen, aber inhaltlich reichen Studie auf Luther als Seelsorger in den frühen Jahren (1518-1520) bis zum Bruch mit Rom.

In der Einleitung (1-9) stellt sie die These vor, auf der ihr Buch beruht: Martin Luther habe zwischen der Fastenzeit 1518 und dem Sommer 1520 25 pastorale Schriften verfasst, die die Leser über verschiedene Aspekte des christlichen Glaubens in der Praxis informieren und führen wollten. Gleichzeitig entfaltete sich die Causa Lutheri - seine Auseinandersetzung mit der Kirche bis hin zur Exkommunikation. Diese große Zahl an pastoralen Schriften in diesem frühen Stadium seiner öffentlichen Karriere zeigt die Wichtigkeit, die Luther der praktisch-pastoralen Seite der Glaubensverkündigung beimisst. Aus diesem Grund wechselt er vom Lateinischen zum Deutschen, um ein möglichst breites Publikum zu erreichen. Liest man die pastoralen Schriften zusammen mit seinen akademischen und polemischen Werken, so bieten sie nach Johnson einen besonderen Blick auf seine Theologie.

Kurz gefasst: Alle Schriften zusammen zeigen einen "pastoral reformer" (2), der sich in erster Linie mit der christlichen Glaubenspraxis und ihrem Effekt auf das Gewissen und das Leben der Gläubigen beschäftigt. In diesem Zusammenhang müssen auch seine frühen Proteste gegen die scholastische Theologie sowie die Kirche gesehen werden, fordert die Theologin. Denn diese Schriften waren kein Nebeneffekt seiner frühen Jahre, sondern das wichtige Anliegen, das ihn antrieb. Ihrer Meinung nach sei dieser Aspekt bislang in der Lutherforschung nicht hinreichend gewürdigt worden. Johnson ist nicht die erste, die Luther als Seelsorger würdigt, aber sie ist diejenige, die diesen Gedanken konsequent auf sein Handeln und seine Schriften in der Frühzeit anwendet und damit der Lutherforschung einen wichtigen Impuls gibt.

In ihrem ersten Kapitel 'The Practical Early Luther' (10-29) gibt Johnson einen Überblick über die Forschungen zum jungen Luther und zeigt, warum und wie seine praktischen, pastoralen Anliegen vernachlässigt worden sind. Der Grund dafür: Luthers Auseinandersetzung mit der Kirche, die Frage nach seiner Orthodoxie und seinen Vorlesungen hätten mehr interessiert. Erst die jüngere Forschung mit ihrem Interesse an der spätmittelalterlichen Glaubenspraxis wie auch an der Frömmigkeitstheologie (Berndt Hamm) hat eine neue, andere Bewertung von Luthers stark pastoralem Zugang zur Theologie und Glaubenspraxis möglich gemacht.

Johnson geht hier ein erstes Mal auf "Luthers reformatorischen Durchbruch" ein (13-15), der viele Forscher bereits intensiv beschäftigt hat. Sie will in ihrer Studie nicht den einen besonderen Moment zeigen, sondern wie sich Luthers frühe Einstellung zur Frömmigkeit und Glaubenspraxis verändert hat, wobei sie feststellt, dass Luther, weil er ein schneller Schreiber mit großem Output war, an manchen Stellen Ideen forscher, an anderen Orten zurückhaltender formuliert hat, so dass kein Werk singulär im Hinblick auf einen reformatorischen Durchbruch interpretiert werden sollte - der Gedanke überzeugt.

Im zweiten Kapitel 'Scholasticism, Indulgences and Christian Life: 1516-1517' (30-59) bindet sie Luthers frühe Vorlesungen, seine ersten pastoralen Schriften, seinen Kampf gegen die Scholastik mit der Auseinandersetzung um die Ablässe zusammen. Betrachtet man seinen Kampf gegen die Scholastik und die Ablässe durch die Linse seiner pastoralen Schriften, dann sieht man einen Seelsorger am Werk, der sich um das Seelenheil der Menschen kümmert.

Sie gibt in diesem Kapitel einen informierten Überblick über das Ablasswesen und Luthers Protest dagegen (43-57), was gar nicht so einfach ist. Dennoch bleiben einige kleinere Ungenauigkeiten, die allerdings nur denen auffallen, die sich lange mit dem Thema beschäftigt haben. Wichtig scheint mir hier zu ergänzen: Es gab praktisch keine Form der Frömmigkeit, die sich nicht mit einem Ablass verbinden ließ. Die Menschen haben gerade die kleineren Ablässe als Maß benutzt, um ihren Weg zum Seelenheil einzuschätzen. Mit seiner Kritik am Ablasswesen in den 95 Thesen traf Luther in das Zentrum der Frömmigkeit, wie sie von den meisten Menschen damals praktiziert wurde. Der Titel des Buches zeigt daher punktgenau, was Martin Luther zu diesem frühen Zeitpunkt wollte: eine Reform der spätmittelalterlichen Frömmigkeit jenseits der Ablässe.

Im dritten Kapitel behandelt sie die Zeit von den 95 Thesen bis zur Heidelberger Disputation mit dem Fokus auf der Fastenzeit 1518, als Martin Luther sich eingehend mit der Reform der Beichte beschäftigte (60-93). Johnson konzentriert sich im folgenden Kapitel (94-112) auf den Sommer 1518, die Zeit von der Heidelberger Disputation bis zum Verhör in Augsburg durch Kardinal Thomas Cajetan - Frömmigkeit im Schatten des Konflikts mit Rom. Sie geht hier noch einmal auf den reformatorischen Durchbruch ein (109-112), eine These, die sie grundsätzlich ablehnt, insbesondere auch für den Sommer 1518, weil sie in den Schriften des Reformators Kohärenz erkennt, aber keinen Bruch. Im fünften Kapitel (113-140) steht die Zeit in der ersten Jahreshälfte von 1519 an, als Martin Luther sich neben dem eskalierenden Konflikt mit Rom den 10 Geboten, der Gebetspraxis und den Guten Werken zuwandte. Aus dem ursprünglichen Protest gegen das Ablasswesen wurde nun ein Entwurf für eine neue Glaubenspraxis.

Das sechste Kapitel (141-182) umfasst den längsten Zeitraum - vom Herbst 1519 bis zum Sommer 1520. Luther formulierte seine Kritik an der Glaubenspraxis schärfer im Ton und richtete sich nicht mehr nur an die Gläubigen sondern auch an die Kirchenhierarchie: Er hatte jetzt "the piety of a New Church" (178-182) entwickelt. Im abschließenden Kapitel (183-192) fasst sie die Ergebnisse zusammen, nämlich dass Luthers früheste pastorale Schriften Themen der Glaubenspraxis behandeln, wie sie sich später in seiner Theologie, seinem Kampf gegen die Kirche und seinen späteren Reformen manifestieren. Dabei attestiert sie dem Reformator "coherence and consistency" (183) in seinen pastoralen Schriften.

Anna Marie Johnson bereichert die Lutherforschung mit ihrem wichtigen Argument, dass man die frühen Jahre Martin Luthers nicht ausschließlich im Hinblick auf einen reformatorischen Durchbruch oder im Kontext der Auseinandersetzung mit Rom sehen dürfe. Dass Martin Luther in erster Linie Seelsorger war, der sich um das Seelenheil der Menschen kümmern wollte und das auch in seiner akademischen Tätigkeit umsetzte, wird von ihr überzeugend anhand der Schriften Luthers aufgezeigt. Positiv anzumerken ist auch, dass sie ihre These in einem ruhigen, freundlichen Ton vertritt und gut lesbar schreibt.

Christiane Laudage