Willibald Steinmetz: Europa im 19. Jahrhundert (= Neue Fischer Weltgeschichte; Bd. 6), Frankfurt a.M.: S. Fischer 2019, 762 S., 6 Kt., 11 s/w-Abb., 5 Tbl., ISBN 978-3-10-010826-5, EUR 78,00
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Steinmetz beginnt sein Werk über das "Jahrhundert Europas" (11) mit einem Rückblick aus der Zeit um 1900, um darauf vorzubereiten, dass sich im 19. Jahrhundert etwas gänzlich Unerwartetes ereignet habe. Von 1800 her gesehen müsse man den Aufstieg Europas zur "Vormacht der Welt" (18) einen "höchst unwahrscheinlichen Vorgang" (20) nennen. Ihn will Steinmetz sichtbar machen und auch erklären. Einlinige Antworten schließt er aus. Doch er zieht sich nicht darauf zurück, Europas Vielfalt hervorzuheben. Sie ist ihm wichtig und deshalb arbeitet er sie in allen Themenfeldern immer wieder heraus. Ob sie jedoch singulär war und Europas "Spitzenstellung in der Welt des 19. Jahrhunderts begründete", nennt er fraglich (30).
Nicht die Vielfalt, sondern ihre Umsetzung in "Vergleich und Wettbewerb" als "Handlungsmodi" habe die "Dynamik Europas im 19. Jahrhundert" ermöglicht und vorangetrieben (45). Vergleich und Wettbewerb in allen Bereichen und auf allen Ebenen, inner- und zwischenstaatlich, national und transnational. Es ging um materielle und kulturelle Leistungen, auch um "moralische und politische Werte", wenn Zeitgenossen den erreichten "Grad von Freiheit" prüften (46), indem sie das Wahlrecht, den Bildungsstand, sozialpolitische Reformen, die Wirkungsmöglichkeiten von Parteien oder die Rechte von Frauen verglichen und daraus Handlungsstrategien entwarfen. All diese Entwicklungen verliefen uneinheitlich, doch letztlich habe sich niemand dem "Vergleichswettbewerb" entziehen können, auch nicht in den "Zonen der Trägheit" (46).
R. J. Evans hat in seinem Europa-Buch die Entwicklungsdynamik im 19. Jahrhundert unter die Leitlinie "Pursuit of Power" gestellt [1], bei Steinmetz ist das eine Facette in einem umfassenderen Wettbewerb, der das "Spannungsverhältnis zwischen Einheit und Vielfalt" (29) immer wieder neu bestimmte. Um ein "faires Bild des europäischen 19. Jahrhunderts" (45) zu erhalten, gelte es, die widerspruchsvollen Ambivalenzen in den Mittelpunkt zu rücken, damit auch die Rückseiten der Fortschritte zu erkennen sind. Wenn etwa ein Mehr an politischer Teilhabe die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern verschärfte, da der Partizipationsgewinn nur an die Männer ausgeschüttet wurde, wenn nationale Autonomie mit der Verstärkung von Feindbildern einherging oder die verfassungsrechtliche Gleichstellung der Konfessionen den Antisemitismus verstärkte. Immer auch die konkurrierenden Perspektiven zu Wort kommen zu lassen, zieht sich als eine Grundhaltung durch das gesamte Werk. Dies gilt auch für wissenschaftliche Deutungsangebote, mit denen man Phänomene wie Industrialisierung oder den "internationalen Finanzkapitalismus" (409ff.) zu erklären versucht. Auch hier nimmt Steinmetz stets die Position des abwägenden Beobachters ein, der das Geschehen aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet und Widersprüche nicht auflöst.
19. Jahrhundert ist bei Steinmetz eine kalendarische Angabe und Bezeichnung einer Epoche. Sie beginnt 1800 und endet 1900. Indem die Französische Revolution und der Erste Weltkrieg nicht einbezogen werden, muss das Spezifikum der Epoche in ihr aufgefunden werden. Sie wird nicht aus dem Davor und Danach bestimmt. Die beiden Hauptteile zur ersten und zweiten Jahrhunderthälfte, die durch unterschiedliche Entwicklungsdynamiken geprägt waren, werden jeweils in Kapitel zu Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und Politik unterteilt. Nur die Anfangsphase bis 1815 und die revolutionäre Jahrhundertmitte werden separat dargestellt.
"Eine Gesellschaftsgeschichte Europas kann nur als vergleichende Geschichte zahlreicher besonderer Wege vor dem Hintergrund weniger gemeinsamer Trends geschrieben werden." (93) Diese Überzeugung bildet eine Art Grundmuster, das dem gesamten Buch zugrunde liegt. Es geht stets um Hauptlinien und die Vielfalt in ihnen. Für die erste Jahrhunderthälfte identifiziert Steinmetz vier Hauptlinien (94f): (1.) "Annäherung an das Ideal rechtlicher Gleichheit"; (2.) Rechte und Pflichten sind primär an Individuen gebunden; (3.) Ungleichheit gilt dennoch weiterhin vielen als gerechtfertigt (der Autor verfolgt den zähen Wandel vor allem am Kampf von Frauen um Gleichberechtigung); (4.) ein "West-Ost-Gefälle", das allerdings in vielen Bereichen "eher das Bild eines regionalen Flickenteppichs" angenommen habe.
Das Europa des Wettbewerbs entfaltete sich nach der Jahrhundertmitte. Voraussetzung dafür war "ein gewisses Grundvertrauen in die Stabilität der Geld-, Vertrags- und Eigentumsordnung". Hinsichtlich dieses Grundvertrauens sei die zweite Jahrhunderthälfte "eine Zeit der allmählichen Angleichung" in Europa geworden. (411) Steinmetz erläutert dies u.a. an der Politik der Gläubiger gegenüber verschuldeten Staaten, dem Osmanischen Reich und Griechenland, und an der "Monetarisierung des Alltags" (412), die auch entlegene ländliche Gebiete und Arbeiterhaushalte erfasste.
Die europäische Politik in der zweiten Jahrhunderthälfte sieht Steinmetz durch vier Entwicklungen geprägt: Nationsbildung, Stärkung der Staatsgewalt, Ausweitung politischer Teilhabe und imperiale Expansion (547). Die "zunehmende Verflechtung der Welt" (550) sei hingegen nicht in den Kern des Politischen, wie man es damals verstand, vorgedrungen. Dieser Kern blieb "national oder imperial definiert. Und folglich stand alles politische Geschehen im Zeichen nationaler oder imperialer Rivalität." (551)
Europa ist in Steinmetz' europäischer Geschichte ein prozesshaftes Gebilde. Die Zeitgenossen haben Zentren und Peripherien unterschieden. Doch die Zuordnungen änderten sich. und sie unterschieden sich je nachdem, auf welchen Bereich man schaute. Deshalb wechselt Steinmetz die Regionen, die er vergleichend betrachtet. Sein Beobachtungsnetz ist je nach Themenfeld unterschiedlich dicht geknüpft, doch insgesamt wird ganz Europa in den Blick gerückt, auch das östliche und südöstliche, Russland und das Osmanische Reich.
Auch ein vorzügliches Werk wie dieses hat Grenzen. Die gewichtigste wird von außen gezogen, von der Konzeption der "Neuen Fischer Weltgeschichte". Die imperiale Politik der europäischen Staaten ist anderen Bänden zugeordnet. Steinmetz spricht deren Bedeutung für die Entwicklungen in Europa an vielen Stellen an, wenn er etwa den britischen "Kriegskapitalismus" (Sven Beckert) betrachtet, die Rheinkrise von 1840 als eine ursprünglich ägyptische Krise darstellt oder an Francis Galton und Cecil Rhodes zeigt, wie sich Vorstellungen von nationaler "Rassenhygiene mit imperialer Menschheitsverbesserung" (643) verbanden. Doch das schmale Unterkapitel "Imperienbildung zwischen Konfrontation und Kooperation" (602-612) kann nur weniges von dem aufnehmen, was Kolonialismus und Imperialismus für das "Jahrhundert Europas" bedeutet haben. Steinmetz spricht dies in seinem Ausblick auf Europa im fin de siècle selber an, als die "Zeit der Gewissheiten zu Ende ging" und die "Verunsicherung [...] alle Lebensbereiche" erfasste (645). In den Zukunftsentwürfen, die auf das Krisengefühl antworteten, verband sich "Freiheit für Europa" mit Beherrschung und "Bevormundung für die anderen" (658). "Wettbewerbe und Vergleiche, universalistische Versprechen und ihre immer nur partikulare [...] Interpretation waren treibende Momente in der europäischen Geschichte des 19. Jahrhunderts und leitende Gesichtspunkte der vorliegenden Darstellung." Dieses Programm löst Steinmetz mit seinem Werk höchst anregend ein.
Anmerkung:
[1] Richard J. Evans: The Pursuit of Power. Europe 1815-1914, London 2016 (deutsch 2018).
Dieter Langewiesche