Rezension über:

Andrew Brown / Jan Dumolyn (eds.): Medieval Bruges. c. 850-1550, Cambridge: Cambridge University Press 2018, XXI + 549 S., 9 Tbl., 17 s/w-Abb., ISBN 978-1-108-41965-9, GBP 99,00
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Rezension von:
Heribert Müller
Historisches Seminar, Goethe-Universität, Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Heribert Müller: Rezension von: Andrew Brown / Jan Dumolyn (eds.): Medieval Bruges. c. 850-1550, Cambridge: Cambridge University Press 2018, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 2 [15.02.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/02/33212.html


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Andrew Brown / Jan Dumolyn (eds.): Medieval Bruges

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Warum diese Geschichte des mittelalterlichen Brügge, wenn doch schon Darstellungen in Niederländisch und Französisch vorliegen? Weil sie in englischer Sprache einen breiteren Leserkreis erreicht und zudem eine Vielzahl neuer Erkenntnisse jüngeren Datums etwa aus der archäologischen und ökologischen Forschung vermittelt: so jedenfalls Marc Boone, der Altmeister der Geschichtsschreibung des mittelalterlichen Flandern, in seinem Geleitwort. Zu Ersterem bleibt anzumerken, dass die Rezeption des Bands zum einen aufgrund seines Preises, seiner sparsamen und qualitativ mediokren Bebilderung und seiner unzulänglichen Veranschaulichung durch nur wenige Karten, Graphiken und Tabellen sowie zum anderen wegen seines durchgängig wissenschaftlichen Anspruchs wohl mehr oder minder auf den üblichen Spezialistenkreis beschränkt bleiben wird, für den die Sprache ein eher sekundäres Kriterium sein dürfte. Hier schreiben Profis für Profis, doch es beeindruckt schon, wie sie das tun.

Die beiden durch eine Vielzahl einschlägiger Veröffentlichungen ausgewiesenen Herausgeber - Brown insbesondere durch sein Werk 'Civic Ceremony and Religion in Medieval Bruges, c. 1300-1520' (2011), Dumolyn u. a. mit seiner Monographie über den Brügger Aufstand 1436/38 (1997) und beide zusammen durch die Herausgabe des Sammelbands 'Medieval Urban Culture' (2017) - haben über zwanzig, meist in Brügge und Belgien tätige Historikerinnen und Historiker und sonstige Fachleute um sich geschart, um jenes zweite Momentum zu realisieren und, mehr noch, zusammen eine histoire totale der Stadt und ihres Umlands mit gewisser, von der Sache her gebotener Akzentuierung auf Wirtschafts- und Sozial-, aber auch Kultur- und religiöser Mentalitätsgeschichte zu verfassen. Geschickt verstehen sie es, chronologische und systematische Elemente zu verbinden und dabei von der Abfallentsorgung über St. Donatian und die Heiligblutprozession bis zur Rolle der Hosteliers, Makler und italienischen Bankiers in einer hochentwickelten Serviceökonomie alle relevanten Themen einzubringen, und sie tun dies auf der Basis breiter, auch (siehe z. B. Kap. 8 'Religious Practices') archivalische Zeugnisse einschließender Quellenkenntnis und unter Heranziehung einer kaum mehr überschaubaren Spezialliteratur insbesondere angelsächsischer und belgisch-niederländischer Provenienz. [1]

Dass man das anspruchsvolle Unternehmen aufs Ganze als geglückt bezeichnen darf, ist sicherlich in erster Linie das Verdienst beider Herausgeber, die Erhebliches mit Blick auf die innere Kohäsion und auch sprachliche Angleichung der Texte geleistet haben müssen. Geschlossenheit und Lesbarkeit sind jedenfalls bemerkenswert; angesichts solcher Homogenität werden denn auch die genauen Anteile der jeweiligen Verfasser an den einzelnen Kapiteln - in manchen sind gleich sieben am Werk - nicht eigens kenntlich gemacht. Zwar gilt es auch Passagen von ermüdender Länge durchzustehen wie etwa zur (obendrein durch entsprechende Detailpläne kaum veranschaulichten) Topographie oder bei der sich weitgehend im Additiven erschöpfenden Aufzählung poetischer und musikalischer Werke, was in früheren Zeiten das Bild vom Gang durch endlose Bleiwüsten evoziert hätte. Alles in allem werden indes Inhalt und Präsentation, wie gesagt, dem hohen Anspruch schon gerecht, wenn auch ein grundsätzliches Anliegen der Herausgeber, nämlich die vergleichende Positionierung Brügges in der städtischen Welt des europäischen Mittelalters, mit aller Konsequenz erst in der von ihnen selbst verfassten Konklusion erfolgt.

Einzelheiten mag man immer bemäkeln (Wo bleibt Gerson? Warum finden die Beginen im Text nur sehr randhaft und im Register gar keine Erwähnung?); schwerer scheint mir das Fehlen eines systematischen Abrisses der Stadtverfassung ins Gewicht zu fallen, die sich stattdessen über viele Kapitel hin verstreut behandelt findet. Überhaupt gilt: Wer raschen Zugriff auf konkrete Sachverhalte erwartet, sollte nicht unbedingt zu diesem Buch greifen, dem weniger an konzis-kompakter Erstinformation liegt als an der Herausarbeitung von Zusammenhängen, Strukturen und Profilen. Es geht mithin um das Verstehen von Werden und Aufstieg, von Wandel (man denke nur an den Textilsektor) und Niedergang der kosmopolitischen Handels-, Industrie-, Finanz- und Kunstmetropole wie auch um das ihrer komplex-komplizierten Binnenstrukturen samt all ihren auf-, mit- und gegeneinander wirkenden Kräften.

Dass Brügge mit seiner Größe und Internationalität in der ersten Liga europäischer Großstädte des späten Mittelalters spielte und somit veritablen Metropolencharakter besaß, gründet, wie die Herausgeber in besagter Konklusion - sicher zutreffend - darlegen, zum einen in der exzeptionellen Verdichtung von Faktoren vielfältigster Vernetzung, Diversität und Differenzierung, zum anderen in der Fähigkeit, politisch-soziale Spannungen und Widersprüche (etwa zwischen kommerziellen Eliten, Adel und den in Gilden organisierten Handwerkern) auszuhalten und zu bewältigen (500f.). Erst die bekannten, vom nahen Antwerpen bis ins ferne Lateinamerika reichenden gewaltigen Veränderungen seit dem 16. Jahrhundert sollten einer ganz und gar auf Ökonomie und Kommerz gegründeten und damit nicht nur konjunktur- und krisenanfälligen, sondern von deren Grundstrukturen existentiell abhängigen Stadt die Grenzen ihrer Leistungs- und Adaptationskapazitäten aufzeigen. An der Metropole des europäischen Mittelalters zogen die neuen Wirtschaftsströme fortan vorbei, sie wurde zu einer nurmehr 'normalen Stadt' (484). Nach dem 16. Jahrhundert, "the city's Indian summer" (482), fiel 'Bruges-la-morte' in einen Dornröschenschlaf, wie er sich in der Dichtung und Musik eines Georges Rodenbach und Erich Wolfgang Korngold spiegelt. Im Abseits bewahrte die Stadt so indes ihr altes Bild und erlebte paradoxerweise deshalb im 20./21. Jahrhundert neuerlich wirtschaftlichen Aufstieg, da die mittelalterliche Internationalität im globalen Massentourismus unserer Tage ihre Entsprechung zu finden scheint. Man sieht: ein lohnendes Buch, das nicht zuletzt zum Weiterdenken anregt.


Anmerkung:

[1] Allerdings vermisst man einige deutsche Titel; zur Rezeption von A. Greve, Hansische Kaufleute, Hosteliers und Herbergen im Brügge des 14./15. Jahrhunderts [2012] hat sich bereits G. P. Dreijer kritisch in der Tijdschrift voor sociale en economische geschiedenis 15 (2019), 146 geäußert.

Heribert Müller