Rezension über:

Dominik Kirschvink: Die Revision als Rechtsmittel im Alten Reich (= Schriften zur Rechtsgeschichte; Bd. 184), Berlin: Duncker & Humblot 2019, 230 S., ISBN 978-3-428-15478-4, EUR 74,90
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Rezension von:
Peter Oestmann
Institut für Rechtsgeschichte, Westfälische Wilhelms-Universität, Münster
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Peter Oestmann: Rezension von: Dominik Kirschvink: Die Revision als Rechtsmittel im Alten Reich, Berlin: Duncker & Humblot 2019, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 3 [15.03.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/03/33396.html


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Dominik Kirschvink: Die Revision als Rechtsmittel im Alten Reich

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Wenn Juristen über Rechtsmittel sprechen, meinen sie damit die Möglichkeit, sich über ein ergangenes Gerichtsurteil zu beschweren und eine weitere Entscheidung von einem übergeordneten Gericht zu beantragen. Das führt in der Praxis dazu, dass ein verkündetes Urteil nicht vollstreckt werden darf, bis das höhere Gericht entschieden hat (Suspensiveffekt). Außerdem gelangt der Prozess durch die Einlegung des Rechtsmittels an eine obere Instanz (Devolutiveffekt). Rechtshistorisch ist damit eine wichtige Weichenstellung angesprochen. Im ungelehrten Recht konnte es diese Art von Rechtsmitteln nicht geben, denn die einheimischen Schöffengerichte, Dinggerichte etc. fanden ihr Recht unmittelbar aus den Rechtsüberzeugungen, auf die sie sich im Einzelfall jeweils einigten. Im gelehrten Recht war das anders. Der studierte Richter sollte nach einer erlernten Methode einen Rechtsfall an vorhandenen Normen prüfen (Subsumtion) und entscheiden. Diese Technik war rational erlernbar und ließ sich bewerten. Deswegen war es möglich, Entscheidungen eines studierten Richters zu kontrollieren. Das übliche Rechtsmittel im gelehrten Zivilprozess war die Appellation. Die unterlegene Partei legte entweder stehenden Fußes vor Gericht (stante pede) oder innerhalb von zehn Tagen bei einem Notar die Appellation ein und ließ die gerichtliche Entscheidung durch ein übergeordnetes Gericht überprüfen. Jetzt fand der gesamte Rechtsstreit also zum zweiten Mal statt. Der Umfang, in dem hierbei neue Tatsachen in das Verfahren eingebracht werden durften, war von Gericht zu Gericht unterschiedlich ausgestaltet. Neben diesem Appellationsverfahren gab es in der frühen Neuzeit aber auch noch andere Rechtsbehelfe. Einer davon war die Revision. Über die gemeinrechtliche Revision weiß man nur wenig. Dem Namen nach gab es die Revision vor dem Reichskammergericht und dem Reichshofrat, ebenso vor vielen territorialen Gerichten. Über das Verfahren vor den obersten Reichsgerichten wusste man schon einiges, unter anderem aufgrund von Arbeiten von Wolfgang Sellert. Die partikularrechtliche Revision ist dagegen bisher ein weißes Blatt.

Im Grundsatz ist es daher hoch erfreulich, wenn sich ein Doktorand der frühneuzeitlichen Revision zuwendet. Dominik Kirschvink grenzt sein Thema in der Einleitung mit Hinweisen zum heutigen Rechtsmittelrecht sowie zum ungelehrten mittelalterlichen Recht und zur gelehrten Appellation ab. In der näheren Engführung des Themas trifft Kirschvink allerdings drei unglückliche Weichenstellungen. Erstens legt er den Schwerpunkt auf das Reichskammergericht. Das ist deswegen misslich, weil das Reichskammergericht seit dem Ende der ordentlichen Visitationen in den späten 1580er Jahren gar keine Revisionen mehr bearbeitet hat. Die gesetzlichen Vorgaben standen also im luftleeren Raum und hatten keinerlei praktische Bedeutung. Zweitens lehnt Kirschvink es grundsätzlich ab, Prozessakten einzubeziehen. Die wenigen Revisionsfälle, die es am Reichskammergericht gab, bleiben auf diese Weise außen vor. Lediglich Zufallsfunde aus der zeitgenössischen Literatur tauchen gelegentlich auf. Der Rest ist Trockenschwimmen im Bereich einer Normengeschichte, deren Relevanz man nicht abschätzen kann. Drittens weigert sich Kirschvink, sich mit der partikularrechtlichen Revision näher zu beschäftigen. Aber gerade in diesem Bereich gibt es die größten Wissenslücken. Aufgrund dieser Vorentscheidungen bleiben mehrere wichtige Fragestellungen von vornherein ausgespart.

Die Arbeit leidet zudem daran, dass Kirschvink sich nicht streng in den Grenzen des selbst gewählten Themas bewegt. Ständig gibt es Ausgriffe, mehr oder weniger locker mit dem Forschungsstand und der Fragestellung verknüpft. Das betrifft sowohl die allgemeinen Ausführungen zum Prozessrecht und zu Rechtsmitteln überhaupt als auch mehrere Ausschweifungen ins 19. Jahrhundert. Im Ergebnis hat man eine Normengeschichte vor sich, also eine Erläuterung zeitgenössischer Gesetze ohne einen Blick auf die Prozesswirklichkeit. Ab und zu tauchen zwar Beispielsfälle auf, aber die Schlaglichter aus der zeitgenössischen Literatur können kaum ein repräsentatives Bild vermitteln.

Im Kern der Arbeit geht es um die Revision gegen Entscheidungen des Reichskammergerichts. In den Grundzügen war zwar schon viel bekannt, aber in seinem normengeschichtlichen Zugriff kann der Verfasser an manchen Stellen den Forschungsstand durchaus verfeinern. Das betrifft zunächst die Chronologie. Kirschvink untersucht in großer Ausführlichkeit frühe Reichskammergerichtsordnungen ab 1495 und zeigt im Anschluss an Jürgen Weitzel, wie sich die Anrufung des Herrschers von einer Gnadenbitte nach und nach zu einem förmlichen Rechtsmittel wandelt. Die Reichskammergerichtsordnung von 1555 enthält sodann ausführliche Regelungen über das Verfahren, wenn sich eine Partei mit einem Urteil des Reichskammergerichts nicht abfinden wollte. Hier erzählt Kirschvink die Einzelheiten des Verfahrens nach. Das ist als solches nützlich, allerdings hängen die Ergebnisse weithin im luftleeren Raum. Die Revision gegen Urteile des Reichskammergerichts war in der Praxis nämlich an die Visitation des Gerichts angebunden, und nach 1588 fanden diese Visitationen und damit auch die Revisionsverfahren nicht mehr statt. Die in der Kameralliteratur fleißig kolportierte Zahl von tausenden unentschiedenen Reichskammergerichtsprozessen verdeckt diesen Befund. So kann man aus normengeschichtlicher Perspektive die Feinheiten des Verfahrens erläutern, auch wenn die einschlägigen Vorschriften kaum praktische Bedeutung hatten. Das Kameralkollegium forderte in der Mitte des 17. Jahrhunderts sogar die Abschaffung der Revision, weil praktisch keine Urteilsvollstreckungen mehr möglich waren, wenn eine Partei gegen ein Reichskammergerichtsurteil Rechtsmittel eingelegt hatte.

Im Anschluss an das Reichskammergericht behandelt Kirschvink den Reichshofrat. Nach einer deutlich zu lang geratenen Einleitung geht es um das so genannte Supplikationsverfahren, das im Westfälischen Friedensvertrag und in der Reichshofratsordnung von 1654 gegen Urteile des Reichshofrats vorgesehen war. Der Verfasser stellt die Dogmatik (Zulässigkeit und Begründetheit) dieser Supplikation dar, für die sich nach und nach ebenfalls der Ausdruck Revision einbürgerte. Die ursprüngliche Idee, dass unbeteiligte Hofräte die Entscheidung ihres Kollegen nachprüfen sollten, ließ sich offenbar nicht umsetzen, weil die vormaligen Referenten bis 1714 am Revisionsverfahren selbst mit beteiligt waren. Wie es mit dem Suspensiveffekt aussah, war zeitgenössisch umstritten. Die kaiserliche Wahlkapitulation von 1711 erkannte die Vollstreckungshemmung für den Reichshofrat an, für das Reichskammergericht nicht, aber hier blieb vieles streitig. Leider geht Kirschvink an keiner Stelle auf die Urteilsquoten ein. Schon das Reichskammergericht entschied überhaupt nur ein Viertel seiner Verfahren durch Endurteil. Beim Reichshofrat scheint die Zahl verbindlicher Entscheidungen noch erheblich niedriger gewesen zu sein. Die tatsächliche Bedeutung von Revisionen dürfte deshalb vergleichsweise gering gewesen sein. Trotzdem gab es rechtspolitische Diskussionen über lange Zeiträume. Dieses Spannungsverhältnis taucht in der Untersuchung nicht auf, und darum bleiben die Hintergründe des Rechtsmittelwesens ziemlich unklar.

Ein kurzer Abschnitt von lediglich gut zehn Seiten widmet sich der partikularrechtlichen Situation in den Territorien. Hier unterscheidet Kirschvink eine reichsrechtlich vorgeschriebene Revision als Ersatz für unzulässige Appellationen, etwa bei Unterschreiten der Appellationssumme. Daneben gab es rein landesrechtlich vorgesehene Revisionen, von Kirschvink ohne nähere Begründung als außerordentliche Rechtsmittel eingeordnet. Hier bestehen die größten Wissenslücken. Deswegen ist es besonders schade, dass der Verfasser in diesem kurzen Kapitel keine einzige partikularrechtliche Quelle zitiert. Die Vielfalt des Rechtsmittelwesens hätte man ohne großen Aufwand zeigen können. So aber bleibt insgesamt vieles weiterhin unklar.

Demgegenüber schildert Kirschvink auf etwa 30 Seiten das Rechtsmittelwesen in Bayern, Preußen und Hannover im 19 Jahrhundert und bricht auf diese Weise aus seinem selbst gesetzten Untersuchungszeitraum aus. Gerade weil nach dem Wegfall der obersten Reichsgerichte 1806 die überterritoriale Ebene nicht mehr vorhanden war und gleichzeitig das französische Recht große Ausstrahlungskraft entfaltete, hatten sich aber die Rahmenbedingungen zu dieser Zeit vollständig geändert.

Handwerklich ist die Dissertation bis auf einige Kommafehler großenteils ordentlich gearbeitet. Etwas unglücklich wirkt der Sprachgebrauch, wenn Kirschvink das Königliche Kammergericht des 15. Jahrhunderts ständig als "kaiserliches Kammergericht" bezeichnet. Dann wird gerade die Abgrenzung zum Reichskammergericht unklar. Zur Frage des Suspensiveffekts hätte sich zudem ein genauerer Blick auf den Gemeinen Bescheid des Reichskammergerichts vom 11. März 1613 gelohnt. Noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts meinte der Kameralautor Johann Ulrich von Cramer, bei dieser Vorschrift handele es sich um einen der vier wichtigsten Gemeinen Bescheide überhaupt.

Das Ergebnis ist damit zwiespältig. Auf der einen Seite gibt es eine verfeinerte Normengeschichte anhand der einschlägigen Gerichtsordnungen, zugleich aber erfährt man über die Praxis und die Hintergründe des Revisionsverfahrens wenig. Und die immer noch ganz unklare partikularrechtliche Revision lohnt und erfordert allemal weiterhin eine eingehende Untersuchung.

Peter Oestmann