Dana Ionescu: Judenbilder in der deutschen Beschneidungskontroverse (= Interdisziplinäre Antisemitismusforschung; Bd. 9), Baden-Baden: NOMOS 2018, 476 S., ISBN 978-3-8487-5094-8, EUR 84,00
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In ihrer Monographie "Judenbilder in der deutschen Beschneidungskontroverse" analysiert die Politikwissenschaftlerin Dana Ionescu die Auseinandersetzung um Legalität und Legitimität der aus religiösen bzw. kulturellen Gründen vollzogenen Beschneidung, die im Sommer 2012 die deutsche Öffentlichkeit dominierte. Damit leistet sie einen wichtigen Beitrag zur Erforschung von Antisemitismus und Minderheitenpolitik in Deutschland.
Zahlreiche Beobachterinnen und Beobachter sowie Betroffene sind sich darin einig, dass jüdisches Leben in Deutschland in den letzten Jahren einer zunehmenden Gefährdung ausgesetzt ist. Wie Ionescu einleitend darlegt, besteht jedoch eine bemerkenswerte Uneinigkeit in Bezug auf die Ursachen. Zieht man auf der einen Seite Stellungnahmen von jüdischen Organisationen und Einzelpersonen zu Rate, beziehen sich einige der drastischsten Äußerungen auf die Beschneidungskontroverse von 2012. Damals war nach einem Urteil des Landgerichts Köln für einige Monate unklar, ob die aus religiösen oder kulturellen Motiven vorgenommene Beschneidung von Säuglingen und Kindern legal ist oder als strafbare Körperverletzung gelten muss. Große Teile der Öffentlichkeit forderten vehement ein Verbot ein. Konsultiert man jedoch auf der anderen Seite die Forschungsliteratur über Antisemitismus, spielt diese Kontroverse allenfalls eine nachgeordnete Rolle, obgleich die Konferenz Europäischer Rabbiner sie als den schwersten Angriff auf das jüdische Leben in Deutschland seit 1945 wertete. Diese ungleiche Beimessung von Relevanz stellt nicht unbedingt einen Widerspruch dar - schließlich muss nicht jede Bedrohung für jüdisches Leben auf Antisemitismus zurückzuführen sein. Dennoch bleibt es eine bemerkenswerte Asymmetrie, die zumindest eingehender antisemitismuskritischer Reflexion bedarf. Eben dazu trägt Dana Ionescus Dissertation bei.
Das Buch ist in fünf Kapitel von sehr ungleicher Länge gegliedert, wobei in den ersten beiden der in Bezug auf die Beschneidungskontroverse eher überschaubare Stand der Forschung rekapituliert sowie die theoretischen und methodologischen Grundlagen ausformuliert werden. Zudem reflektiert die Autorin hier auch das Verhältnis von Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus. Diese Überlegungen sind äußerst relevant, weil die Beschneidung in Judentum und Islam etabliert ist, sodass beide Minderheiten von den Verbotsforderungen und der Kontroverse betroffen waren.
Im dritten Kapitel rekonstruiert Ionescu die Vorgeschichte der Kontroverse. Diese besteht in einigen seinerzeit öffentlich wenig beachteten Diskussionen über die Legalität und Legitimität der Beschneidung in medizinischen, juristischen und psychoanalytischen Publikationen. Dabei zeigt sich ein Wandel in den 2000er Jahren. Während sich die Diskussionen bis dato auf medizinische Fachmedien konzentrierten und die religiös bzw. kulturell begründete Beschneidung ausdrücklich ausklammerten, problematisieren einige Diskutanten nun explizit die religiöse bzw. kulturelle Praxis. So geriet die bis dahin aufgrund von Toleranz, Respekt oder Gleichgültigkeit von der öffentlichen Befragung ausgenommene religiöse Praxis von jüdischen und muslimischen Minderheiten zum Gegenstand einer mit säkularen Argumenten geführten Debatte. Bemerkenswerterweise zeigt Ionescu, dass dieser Wandel auf eine relativ kleine Zahl von beschneidungskritischen Autoren zurückgeht, die - wie sich an Danksagungen und gemeinsamen Publikationen zeigt - miteinander in Austausch stehen. In der das Kapitel abschließenden kurzen Darstellung wird deutlich, dass dieselben Autoren auch in der öffentlichen Kontroverse von 2012 prägend waren.
Das vierte Kapitel umfasst mit knapp 250 Seiten deutlich mehr als die Hälfte des Buches. Darin analysiert die Autorin die Kontroverse auf der Grundlage vielfältiger Quellen: Artikel aus überregionalen Zeitungen, Online-Kommentare zu diesen Artikeln sowie zwei radikal beschneidungskritische Blogs von großer Sichtbarkeit. Ergänzt wird dieser Textkorpus durch zehn themenzentrierte narrative Interviews mit anonymisierten Akteurinnen und Akteure der Beschneidungsdebatte. In den circa zwanzigseitigen Kapitel-Abschnitten widmet sich Ionescu jeweils einem von insgesamt elf "Motiven", die in der Debatte immer wieder auftraten und diese somit prägten. Dazu zählen beispielsweise die Annahme, Beschneidung sei eine Verstümmelung oder Traumatisierung, ein Anzeichen von Rechtlosigkeit oder eine Benachteiligung von Jungen gegenüber Mädchen.
Wie es der Titel der Arbeit suggeriert, analysiert die Autorin in erster Linie die dabei aufscheinenden "Judenbilder". Sie zeigt bei jedem der Motive ein Spektrum auf: An einem Ende stehen Äußerungsformen bei denen das Motiv unter eindeutigem Rückgriff auf etablierte antisemitische Stereotypen gepaart mit offener antijüdischer Feindseligkeit artikuliert wird. Am anderen Ende stehen Äußerungsformen, bei denen die Beschneidung zwar mit durchaus ähnlichen Argumenten problematisiert wird, die Artikulation aber auf eine Weise erfolgt, die in einer Diskussion über die Legalität einer kulturellen Praxis legitim scheint und in keiner offenkundigen Weise antisemitisch ist. Zwischen beiden Polen erstreckt sich ein Spektrum ohne eine klare Grenze oder einen eindeutigen Punkt, an dem das eine in das andere umschlägt. Erwartungsgemäß finden sich im offiziellen Diskurs der Tageszeitungen eher die sublimierteren, in den Beiträgen im Kommentarbereich und Onlinemedien die offen antisemitischen Artikulationsformen. Doch auch in den Tageszeitungen ist trotz differenzierterer Sprache ein klarer Bias gegen die Praxis der Minderheiten erkennbar; eine Anknüpfungsfähigkeit für antisemitische Diskurse bleibt gegeben.
Ionescu leistet in der Arbeit weitaus mehr als der Titel und das Methodenkapitel erwarten lassen: Sie spürt nicht nur antisemitischen Judenbildern in der Debatte nach, um diese dann entlarvend auszustellen. Vielmehr lässt sie sich bei ihrer Analyse auf die Argumentation in der Sache ein: Inwiefern handelt es sich bei der Beschneidungspraxis wirklich um eine Verletzung der beschnittenen Säuglinge bzw. Kinder oder ihrer Rechte? Handelt es sich bei der Legalität der Beschneidung und der gleichzeitigen Illegalität weiblicher Genitalverstümmelung wirklich um Geschlechterdiskriminierung? Welcher Argumentationsspielraum besteht und welche Art der Argumentation ist angesichts der teils recht unsicheren Sachlage rational vertretbar? Dabei zeigt sich, dass offener Antisemitismus immer wieder mit offener Irrationalität einhergeht.
Auf diese argumentative "Zusatzleistung" des Buches bezieht auch der wichtigste Kritikpunkt: Es wäre wünschenswert gewesen, dass diese für die Arbeit prägende argumentative Auseinandersetzung in der Sache theoretisch und methodologisch stärker reflektiert worden wäre. Insbesondere müsste dann das Verständnis von Antisemitismus präziser gefasst werden. In ihrer Einleitung fasst Ionescu den Antisemitismus mit Rückgriff auf die Psychoanalyse und Jean Paul Sartre als ein Ressentiment, das von der Realität jüdischen Lebens relativ losgelöst sei (50 f.). Das antisemitische Judenbild sei reine Fiktion. In ihrer Arbeit analysiert Ionescu dagegen einen komplexen Artikulationsprozess zwischen antisemitischem Affekt und jüdischer Realität. Diesen Prozess könnte man einerseits so fassen, dass der antisemitische Affekt am jüdischen Objekt solange sucht, bis er einen Aspekt findet, an den er sich haften kann. Die in Bezug auf diesen Aspekt vorgebrachten rationalen Argumente wären dann ein Vehikel, das der antisemitische Affekt nutzt, um in der Öffentlichkeit als legitim auftreten zu können. Andersherum könnte man den Prozess so fassen, dass eine in einer demokratischen Gesellschaft an sich legitime Diskussion über die Legitimität und Legalität religiöser Praktiken durch antisemitische Affekte beeinträchtigt wird. Das zeigt sich in der Debatte dann als rational nicht nachvollziehbare Verzerrung und Fokussierung, als Suspendierung der Vernunftprüfung zugunsten antisemitischer Argumentationsmuster mit denen das Jüdische als das Negative identifiziert wird. Egal welche der beiden Perspektiven man einnimmt, heraus kommt eine von antisemitischen (und rassistischen) Affekten geprägte Debatte über Minderheiten. Solche Dynamiken von Affekt, Objekt und Rationalität theoretisch zu erfassen, bleibt auch zukünftig eine Herausforderung für die Antisemitismusforschung.
Floris Biskamp