Rezension über:

Daniel Giere: Computerspiele - Medienbildung - historisches Lernen. Zu Repräsentation und Rezeption von Geschichte in digitalen Spielen (= Forum Historisches Lernen), Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2019, 422 S., 103 s/w-Abb., ISBN 978-3-7344-0825-0, EUR 49,90
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Rezension von:
Ulf Kerber / Florian Hellberg
Karlsruhe / Freiburg
Redaktionelle Betreuung:
Christian Kuchler
Empfohlene Zitierweise:
Ulf Kerber / Florian Hellberg: Rezension von: Daniel Giere: Computerspiele - Medienbildung - historisches Lernen. Zu Repräsentation und Rezeption von Geschichte in digitalen Spielen, Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2019, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 6 [15.06.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/06/33743.html


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Daniel Giere: Computerspiele - Medienbildung - historisches Lernen

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Entgegen der Allgegenwart digitaler Spiele in der Geschichtskultur sowie der hohen Zahl von Spieler*innen weltweit, ist die Anzahl von deutschsprachigen Monografien, die sich dezidiert mit dem Medium Computerspiel befassen, noch immer sehr gering. [1] Der Schwerpunkt der geschichtsdidaktischen Rezeption historischer Computerspiele erschöpft sich vorwiegend in der (zumeist abfällig geäußerten) Kritik an Authentizität und inhaltlicher Korrektheit historischer Aussagen und Sachverhalte. Der Autor Daniel Giere kritisiert diese Zugangsweise zurecht. Die Auseinandersetzung mit der vergleichbaren Forschung zu 'Geschichte im Film' hat gezeigt, dass geschichtskulturelle Medien Wirkungen auf das individuelle Geschichtsbewusstsein ihrer Rezipient*innen haben können (13). Gerade im Hinblick auf die von der Kultusministerkonferenz 2017 formulierte Forderung, die Analyse von Medienwirkungen digitaler Spiele in den Unterricht miteinzubeziehen, ist die Arbeit des Autors als wichtiger Meilenstein für die Geschichtsdidaktik zu bewerten.

Daniel Giere richtet in seiner Dissertation den Fokus auf die Repräsentation und Verarbeitung von Geschichte in digitalen Spielen. Das erklärte Ziel ist, danach zu fragen, welche historischen Repräsentationen digitaler Spiele nutzerseitig rezipiert werden können, welche Bedingungen und systemimmanenten Voraussetzungen gegeben sind und wie diese durch die Rezipient*innen geschichtsbewusst verarbeitet werden (14).

Der Einleitung (7-18) folgen die sehr breit angelegten Grundlagen (19-154). Neben den terminologischen Grundlegungen und einem luziden Überblick, beispielsweise zum Historischen Lernen, zum digitalen Spiel und zu den Dimensionen des individuellen Geschichtsbewusstseins, benennt Giere drei Analysedimensionen für die makroperspektivische Strukturanalyse eines Spielsystems. Wie schon durch die Medienkompetenzforschung vorgeschlagen, sollen sich auch Lernende mit den Zwängen und Bedingungen auf Produzent*innenseite vertraut machen. Dies bedeutet, sich im Klaren darüber zu werden, warum und zu welchem Zweck Spieleproduzierende historische oder historisierende Elemente aufgreifen und 'aktiv' bewerben. [2]

Neben ausführlichen und nachvollziehbar transdisziplinären Zugriffen auf Modelle der Social Studies, der Games Forschung, der Medienwirkungsforschung und der Lernpsychologie, ist dem Autor eine Anbindung an geschichtsdidaktische Modelle besonders wichtig. Hierdurch möchte er die Verankerung im Geschichtsunterricht nicht nur empirisch ableitbar gestalten, sondern auch anbindungsfähig machen. Dabei greift er auf die Dimensionen des Geschichtsbewusstseins nach Pandel und auf die Triftigkeitsprüfung historischer Narration durch Sinnbildungsmuster nach Vorbild Rüsens zurück. [3] Das von Giere erdachte System kategorisiert lediglich, wie kritisch auf die im Spiel dargebotenen historischen Repräsentationen bei der eigenen Erzählung reagiert wird. Ob diese Zuordnung nach Rüsen tatsächlich legitim ist oder nicht, ist jedoch für die Zielsetzung dieses Systems nicht relevant. 

Die Untersuchung der Qualitäten der historischen Form erfolgt unter terminologischem Rückgriff auf das von Adam Chapman bereits 2016 vorgelegte Analysemodell der Repräsentation von Geschichte in digitalen Spielwelten (Simulationsstil, Zeit, Raum und Narrativ). [4] Nach Giere erfolgt erst hieran die Begründung der Auswahl einer passenden Spieleepisode sowie deren mesoperspektivische Analyse (168). 

Ausgehend von diesem theoriegeleiteten Modell zur medienspezifischen Rezeption historischer Repräsentationen zielt der Hauptteil auf die empirische Fundierung dieses Modells durch ein Treatment am Beispiel einer Spielsequenz (Boston Tea Party) des populären Action-Adventures Assassin's Creed III aus dem Jahr 2012 (176-339), welches innerhalb eines Jahres weltweit mehr als 12 Millionen Mal verkauft wurde. [5] Der gewählte empirische Ansatz bildet die Verknüpfung von Grundsätzen der "Grounded Theory und der qualitativen Inhaltsanalyse zu einem Mixed-Methods-Ansatz" (17). Die Thesen des entwickelten Forschungsdesings werden mittels Leitfaden-Interviews anhand einer Stichprobe (n=35) aus Studierenden (mit und ohne geschichtswissenschaftlichem Hintergrund) inklusive einer Kontrollgruppe (n=23) evaluiert (272). Mit Blick auf die Ergebnisse (340-372) interessieren besonders die Transfereffekte und -prozesse des digitalen Spiels in Bezug auf Ursachen - also die von den Spieleautor*innen bewusst eingebrachten historischen Entitäten - und deren (Aus-)Wirkungen auf die Rezipient*innen. Entlang der aufgeworfenen Forschungsfragen kann zusammenfassend festgestellt werden, dass historische Repräsentationen in digitalen Spielen Auswirkungen auf die Spielenden haben. Diese nehmen Einfluss auf die Ereignis-, Szenen- und Erzähl-Schemata und damit wiederum auf das individuelle Geschichtsbewusstsein der Spielenden. Deren Geltungsstärken können anhand eines auf den Triftigkeitsprüfungen Rüsens beruhenden Kategoriensystems erfasst und nach "Effektstärken" (365) eingeteilt werden, wobei Giere annimmt, dass diese auch langfristige Transfereffekte haben werden. Je mehr die Repräsentation historischer Ereignisse, historischer Personen und räumlicher Repräsentationen von den Nutzer*innen als realistisch eingeschätzt werden, desto stärker ist der Einfluss auf das Geschichtsbewusstsein. Dieser Einfluss kann durch Bewerbung des Spiels verstärkt werden, wenn hier explizit Hinweise auf die historische Genauigkeit gegeben werden. Wenn ansonsten kein historisches Vorwissen bei den Nutzer*innen vorhanden ist, werde auf die als vermeintlich realistisch eingeschätzten historischen Repräsentationen des Spiels zurückgegriffen, um Lücken in der individuellen (Nach-)Erzählung zu schließen. Für Giere kann diese "temporale Kopplung" mentaler Wissensstrukturen als eine wichtige Ergänzung der historischen Sinnbildung gedeutet werden. Historisches Lernen wäre für ihn demnach "Sinnbildung über Zeiterfahrung durch temporale Kopplung" (364).

In einem abschließenden und sehr knapp ausfallenden letzten Kapitel geht der Autor auf die Implikationen digitaler Spiele für das Historische Lernen ein (372-379). Entlang der vier Modi des digitalgestützten historischen Lernens, die das Lernen von, mit, an und über digitale Medien beschreiben, wird zusammengefasst, für welche konzeptuellen Zugriffe digitale Spiele im Unterricht geeignet sind. [6

Kritisch ist anzumerken, dass eine Vielzahl der für die geschichtsunterrichtliche Aufarbeitung gemachten Anregungen doch auf die Aufklärung von Dissonanzen zwischen im Spiel vermittelter Darstellung und wissenschaftsbasierter Historiographie hinausläuft. Giere schlägt selbst vor, dass die Aufarbeitung digitaler Spiele einen wichtigen Beitrag zur Ausformung einer historischen Medienkompetenz darstellen könnte. Dieser Auffassung kann aufgrund der lebensweltlichen Perspektive nur zugestimmt werden. [7] Jedoch wäre es wünschenswert gewesen, der Autor hätte seine Vorschläge entlang der Inhalts- und Aufgabenfelder der historischen Medienbildung als Kompetenzen formuliert. So hätten Lehrkräfte eine eindeutige Entscheidungshilfe erhalten, welche historischen Medienkompetenzen sie in einem Unterrichtssetting adressieren wollen, um sich dann ein entsprechendes Mediensystem auszuwählen. 

Zudem bietet der gewählte Ansatz der Analyse einzelner Szenarien bei einem einzigen Spiel nur eingeschränkte Möglichkeiten für das konzeptuelle Denken und für den Wissenstransfer. Wenn hingegen Lernende untersuchen würden, unter welchen ökonomischen Zwängen die Produzierenden stehen, welche spielgenretypischen Klischees oftmals genutzt werden (müssen) und warum Spiele bevorzugt Mythen und überkommene Geschichtsbilder festigen, statt sie zu hinterfragen, wäre man insgesamt einen deutlichen Schritt bei der Medienkritikfähigkeit Lernender weiter gekommen. Eine Beispielfrage könnte hier stellvertretend sein, warum Bösewichte in Games und Filmen oft Deutsche, Russen oder neuerdings Muslime sind.

Das große Verdienst von Gieres Arbeit liegt in der Anbindung der geschichtsdidaktischen Computerspielforschung an die empirische Didaktik sowie an die Medienwirkungsforschung. Das theoretische Modell dieser Arbeit kann ebenso zur Untersuchung der Medienwirkungen auf andere Mediensysteme wie Bild, Film und Social Media übertragen werden. Dringliche Desiderate bleiben sowohl Langzeitstudien zur Rezeption historischer Repräsentationen digitaler Spiele sowie die Rezipient*innenforschung auf Schüler*innen verschiedener Schulformen auszuweiten (382 / 383). Darüber hinaus fehlen weiterhin konkrete Ausarbeitungen von kompetenzorientierten Unterrichtssettings zum Historischen Lernen und digitale Spiele für die geschichtsunterrichtliche Praxis. [8


Anmerkungen:

[1] Vergleiche Waldemar Grosch: Computerspiele im Geschichtsunterricht, Schwalbach / Ts. 2002; Carl Heinze: Mittelalter Computer Spiele. Zur Darstellung und Modellierung von Geschichte im populären Computerspiel, Bielefeld 2012; Steffen Bender: Virtuelles Erinnern. Kriege des 20. Jahrhunderts in Computerspielen, Bielefeld 2012; Nico Nolden: Geschichte und Erinnerung in Computerspielen. Erinnerungskulturelle Wissenssysteme, Berlin / Boston 2019 sowie im Erscheinen Clemens Reiser: Cold War Games. Der Kalte Krieg in Computerspielen (circa 1980-1995).

[2] Vergleiche Heinz Bonfadelli / Thomas N. Friemel: Medienwirkungsforschung, 4., völlig überarbeitete Auflage, Konstanz 2011.

[3] Vergleiche Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsdidaktik. Eine Theorie für die Praxis, Schwalbach / Ts. 2013 und Jörn Rüsen: Die vier Typen des historischen Erzählens, in: Reinhart Koselleck / Heinrich Lutz / Jörn Rüsen (Hgg.): Formen der Geschichtsschreibung, München 1982, 514-606.

[4] Vergleiche Adam Chapman: Digital Games as History. How Videogames Represent the Past and Offer Access to Historical Practice, London 2016.

[5] Vergleiche Ivan Tom: News: Assassin's Creed 3: 12 million sales boost Ubisoft's Q3. Gamesradar.com/ (2017), URL: https://www.gamesradar.com/new-assassins-creed-origins-info-on-redesigned-fighting-and-traversal-naval-combat-levelling-and-modern-elements/ (zuletzt aufgerufen am 29.04.2020).

[6] Vergleiche Daniel Bernsen / Alexander König / Thomas Spahn: Medien und historisches Lernen. Eine Verhältnisbestimmung und ein Plädoyer für eine digitale Geschichtsdidaktik 2012, URL: http://universaar.uni-saarland.de/journals/index.php/zdg/article/viewFile/294/358 (zuletzt aufgerufen am 29.04.2020). 

[7] Vergleiche Ulf Kerber: Historische Medienbildung als theoretisches Kompetenz-Strukturmodell für eine Integration der Medienbildung in die Fachdidaktik des Faches Geschichte in Baden-Württemberg, Karlsruhe 2016.

[8] Erfreuliche Ausnahmen bilden Daniel Milch, geb. Giere / Nico Nolden: Boston Harbor a Teapot Tonight! Analysemodell zur Darstellung von Geschichte im digitalen Spiel am Beispiel von Assassin's Creed III, in: Geschichte lernen 194 (2020), 40-45 sowie Stephan Friedrich Mai / Alexander Preisinger unter Mitarbeit von Andreas Hameter: Digitale Spiele und historisches Lernen, Frankfurt am Main 2020.

Ulf Kerber / Florian Hellberg