Rezension über:

Lars Tschirschwitz: Kampf um Konsens. Intellektuelle in den Volksparteien der Bundesrepublik Deutschland (= Politik und Gesellschaftsgeschichte; Bd. 102), Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2017, 571 S., ISBN 978-3-8012-4237-4, EUR 48,00
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Rezension von:
Felix Pankonin
Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur - Simon Dubnow, Leipzig
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Felix Pankonin: Rezension von: Lars Tschirschwitz: Kampf um Konsens. Intellektuelle in den Volksparteien der Bundesrepublik Deutschland, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2017, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 7/8 [15.07.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/07/30595.html


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Lars Tschirschwitz: Kampf um Konsens

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Es markierte eine deutliche Akzentverschiebung, dass die Dissertation des Rostocker Historikers Lars Tschirschwitz nicht unter ihrem ursprünglichen Titel "Die Suche nach Konsens" (2015) publiziert wurde. Das im Zentrum stehende Engagement von vier Parteiintellektuellen in den großen Volksparteien der Bundesrepublik war zwar oft eine Suche nach, aber vor allem immer ein "Kampf um Konsens". Permanent rangen sie in ihren Parteien um eine einheitliche Orientierung, in der Öffentlichkeit um Zustimmung, aber auch mit den intellektuellen politischen Gegnern um Hegemonie. Als Protagonisten seiner Studie wählte der Autor Heiner Geißler und Kurt Biedenkopf von der CDU sowie Erhard Eppler und Peter Glotz von der SPD. Unter den Intellektuellen zeichnen sie sich durch eine "zugespitzte Kombination von Amt und Eigensinn" (493) aus.

Die Figur des Parteiintellektuellen ist keinesfalls neu. Doch die aus der vergleichenden Analyse des Wirkens von vier herausragenden Vertretern entwickelte, theoretische Charakterisierung dieses Intellektuellentyps stellt einen bedeutenden Forschungsbeitrag dar. Innovativ ist auch Lars Tschirschwitz' überaus gelungener Versuch, über ihre Biographien einen Zugang zur Strukturgeschichte der alten Bundesrepublik und der für diese emblematischen Organisationsform, der Volkspartei, zu erschließen. Damit treten die wesentlichen Transformationsprozesse in der von ihm behandelten Zeit, die weit über den primären Untersuchungszeitraum der 1970er und 1980er Jahre hinausreicht, deutlich hervor.

Das erste Kapitel widmet sich den Lebenswegen der vier Protagonisten bis zu jenem Punkt, ab dem sie jeweils als Parteiintellektuelle etabliert waren, und wirft dabei zugleich einen Blick auf den Nationalsozialismus, den Zweiten Weltkrieg, die frühe Nachkriegszeit und die Phase des Wirtschaftsaufschwungs. In den darauffolgenden fünf vorrangig chronologisch angeordneten, doch auch thematisch abgegrenzten Kapiteln werden die Strukturgeschichte der Bundesrepublik und die prägenden Debatten der westdeutschen Öffentlichkeit erzählt. Tschirschwitz beginnt mit der zum Ende der Boom-Phase verbreiteten Sorge über die Grenzen des Wachstums. Er behandelt anschließend die Bewahrung des Rechtsstaats im Angesicht von Terror und Extremisten sowie die Verteidigung des transatlantischen Bündnisses im Kontext der zweiten Hochphase des Kalten Krieges zu Beginn der 1980er Jahre. Schließlich nimmt er die Herausforderungen durch die Etablierung neuer Medien und die politischen Umbruchsprozesse 1989/90 in den Blick. So entfaltet das Buch ein beeindruckendes Panorama der sich stetig verändernden Diskurslandschaft. Dabei folgt der Autor mäandernd, aber immer gut nachvollziehbar den Protagonisten, die sich in den Kontroversen exponierten und damit mal mehr, mal weniger direkt zur Entwicklung ihrer Parteien beitrugen. Zugleich resümiert der Autor am Ende eines jeden Kapitels die Rolle der Protagonisten in den vorgestellten Debatten. Damit schärft er die Charakteristik der Parteiintellektuellen. Im Schlusskapitel verdichtet er die am Material herausgearbeiteten Konturen zu einer Theorie dieses Typus.

Zur vielleicht größten Herausforderung dürfte für Tschirschwitz geworden sein, dass er für seine Recherchen nicht im gleichen Maße bei allen vier Personen auf Archivmaterialien zurückgreifen konnte. Die Einsicht in den persönlichen Aktenbestand Heiner Geißlers wurde ihm nicht gewährt; ebenso konnte er den Vorlass von Kurt Biedenkopf kaum einsehen. Damit fehlt ausgerechnet in Kapitel IV, in dem die Konfrontation Geißlers mit dem damaligen Parteivorsitzenden Helmut Kohl das untersuchte Konzept des Parteiintellektuellen auf eine besondere Probe stellt, eine wichtige Quellenbasis. Doch der Autor integriert diesen Umstand gelungen und wendet ihn damit produktiv um. Wo sich angenommene Intentionen und Interpretationen nicht am Material überprüfen lassen, schreitet er fragend voran.

Ähnlich geht der Autor mit Widersprüchen bezüglich der Eignung der Protagonisten um. Im Fall von Erhard Eppler kann die Spannung jedoch nicht restlos aufgelöst werden. Die charakteristische Verknüpfung von "Amt und Eigensinn", die zum unbedingten Kriterium für die Auswahl bestimmt wurde, lässt sich in seinem Fall über eine erhebliche Strecke der behandelten Zeit nicht konstatieren. So avancierte Eppler vielmehr zu einem intellektuellen Vordenker, der seiner Partei eng verbunden war. Doch im Unterschied zu Glotz, Biedenkopf und Geißler leistete er vorrangig intellektuelle Arbeit und stellte sich ganz bewusst ab 1982 nicht mehr für Mandate zur Wahl. Unmittelbare politische Verantwortung, die mit einem Amt einhergegangen wäre, trug Eppler danach nicht mehr. Wohl deswegen bezeichnet Tschirschwitz Eppler mitunter als Bewegungsintellektuellen, vor allem wenn dessen langjährige Bemühungen um die Integration der neuen sozialen Bewegungen und der Anhänger der Grünen im Zentrum seines Engagements standen. Nach Ansicht des Rezensenten zeigt das aber auch, dass Parteiintellektuelle sich nicht notwendig durch ihr offizielles Amt auszeichnen.

Am Schluss bündelt Tschirschwitz die in der Arbeit bisher gesammelten Erkenntnisse. Dabei greift er auf Pierre Bourdieus These zurück, "wonach die Tätigkeit eines Politikers im Zuge der Professionalisierung des politischen Betriebs selbst zu dem autonomen Feld werden kann, auf dem ein Intellektueller die notwendige Autorität erlangt" (522). Das eröffnet ihm jenen Spielraum, mit dem sich Eppler auch nach seiner Amtszeit integrieren lässt. Doch wenn der Autor die Funktion des Parteiintellektuellen zugleich von der des Gesellschaftskritikers weitestgehend scheidet, steht Eppler plötzlich im Abseits. Dieser hatte zwar stets die politische Ordnung der Bundesrepublik verteidigt. Doch verband er seine fundamentale Kritik an ihrer Verfasstheit nicht immer mit einer utopischen Hoffnung auf eine grundlegend andere Einrichtung der bundesdeutschen Gesellschaft?

Der Mehrwert, den die Aufarbeitung des intellektuellen Engagements dieser vier gewichtigen Repräsentanten für die Untersuchung der Strukturgeschichte der Bundesrepublik hat, wird damit keinesfalls geschmälert. An ihrem "Kampf um Konsens" lassen sich wie an Seismografen die Erschütterungen der Öffentlichkeit und die von ihnen hervorgerufenen Umbrüche ablesen. Lars Tschirschwitz hat mit seiner Arbeit einen wertvollen Beitrag zur Geschichte der bundesdeutschen Demokratie und ihrer Öffentlichkeit in einer Zeit zwischen dem Ende des Booms und der Wiedervereinigung geleistet. Er hat das zentrale Motiv für das Engagement der vier Protagonisten und damit für die Volksparteien der Bundesrepublik herausgearbeitet: den "Kampf um Konsens".

Felix Pankonin