Steffen Haug / Gregor Wedekind (Hgg.): Die Stadt und ihre Bildmedien. Das Paris des 19. Jahrhunderts (= Schriften der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 19. Jahrhunderts; Bd. 3), München: Wilhelm Fink 2018, 187 S., 108 s/w-Abb., ISBN 978-3-7705-6319-7, EUR 49,90
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Paris ist eine Stadt der Bilder. Unzählige zum Klischee geronnene Ansichten der Sehenswürdigkeiten der Seine-Metropole werden täglich als Postkarten in alle Welt verschickt oder als Selfie auf Instagram und anderen sozialen Netzwerken gepostet; Künstler, Fotografen, Karikaturisten und Cinéasten haben sich an ihr abgearbeitet; Dichter und Intellektuelle haben seit Louis-Sébastien Merciers "Tableau de Paris" (1781) die Stadt und ihre Bewohner porträtiert. Während für die literarischen Paris-Bilder mit Karlheinz Stierles monumentaler Studie von 1993 eine Gesamtdarstellung vorliegt, fehlt ein vergleichbares Werk für die bildende Kunst. Steffen Haug und Gregor Wedekind wollen mit dem Sammelband, der hier vorgestellt werden soll, einen Anfang machen, um diese Lücke zu schließen. Er ist hervorgegangen aus einer Tagung, die 2012 im Deutschen Forum für Kunstgeschichte in Paris stattgefunden hat. Dabei sind die Herausgeber und die Autoren vor allem am Zusammenspiel von Stadtgeschichte, künstlerischer Wahrnehmung und Verarbeitung und medialer Entwicklung interessiert: Die Bildmedien, die analysiert werden, reichen von der Druckgrafik über die frühen Versuche der Fotografie bis zu den Dioramen eines Louis Daguerre oder den Weltausstellungen der zweiten Jahrhunderthälfte.
Im ersten Beitrag, der gleichsam den Kern des Bandes bildet, um den sich die anderen Aufsätze in konzentrischen Kreisen anlagern, analysiert Gregor Wedekind die 1853 entstandene Ätzradierung "Le Stryge" von Charles Meryon, dessen Serie der "Eaux-fortes sur Paris" bis heute wesentlich das Bild der Stadt im Übergang zur Moderne mitgeprägt hat. Das Blatt, die Nummer 1 der Serie, bringt in einem perspektivisch stark verkürzten Blick den "Stryge", eine von Vilolet-Le-Duc bei der Restauration von Notre-Dame auf dem Turm installierte Fabelwesenskulptur, mit dem Turm der mittelalterlichen Kirche Saint-Jacques und dem Häusermeer der Pariser Innenstadt zusammen. Wedekinds Aufsatz ist eine brillante Mikrostudie, die geradezu exemplarisch vorführt, wie die Produktion des Künstlers Meryon, seine Auseinandersetzung mit der Stadt, in der er lebt und arbeitet, eingewoben ist in ein Netz aus historischen, literarischen und mythologischen Motiven. Der groteske Stryge mit seinen Flügeln, Hörnern und der herausgestreckten Zunge ist für Meryon das Emblem der Stadt Paris, die wiederum emblematisch für die moderne Stadt bzw. die Modernität und die Zivilisation an sich steht (51).
Auch wenn bei Meryon mit dem "Stryge" und der gerade erst renovierten Tour Saint-Jacques zwei Bauwerke im Zentrum des Druckes stehen, die erst im Zuge der Haussmannschen Stadterneuerung ihre aktuelle Gestalt erhalten hatten, waren diese städtebaulichen Veränderungen für ihn nicht das primäre Motiv für seine Arbeiten. Damit scheint er jedoch unter den um die Jahrhundertmitte tätigen Grafikern eher die Ausnahme gewesen zu sein. Vielen Künstlern ging es gerade darum, das Alte, im Zuge der Stadtsanierung Vergehende für die Nachwelt festzuhalten. Zu diesen zählte auch der Radierer Louis-Marie Laurence (eigentlich: Louis-Marie-Farnèse-Laurence Darets de Blanry), dessen Werk, das völlig in Vergessenheit geraten war, von Valérie Sueur-Hamel in ihrem Beitrag vorgestellt wird. Laurence, der mit Meryon befreundet war und mehrfach mit ihm zusammengearbeitet hatte, hatte seine Radierungen, die durch ihre pittoresken Sujets und ihren Detailreichtum glänzen, ausdrücklich als "recherches archéographiques", "archäographische Forschungen" bezeichnet, also als Versuch, das alte, untergehende Paris mit den Mitteln der Grafik für die Erinnerung zu bewahren.
Ganz ähnliche Bildgegenstände wie Wedekind und Sueur-Hamel, nämlich Ansichten des "vieux Paris" unmittelbar vor dem Beginn der Haussmannschen Stadterneuerung, analysiert Joke de Wolf in ihrem Beitrag. Die Motivlage ist jedoch hier erneut eine gänzlich andere: Die von de Wolf untersuchten Arbeiten - Zeichnungen, vor allem aber Fotografien - waren von der Pariser Stadtverwaltung in Auftrag gegeben worden, um die städtebaulichen Veränderungen der zweiten Jahrhunderthälfte zu dokumentieren. So fertigte der Architekt Gabriel Davioud 1851 Zeichnungen von 250 Häusern an, die im Zuge der Erweiterung der Rue de Rivoli im Zentrum der Stadt zerstört werden sollten, und zwar mit dem ausdrücklichen Hinweis, die Stadtverwaltung wolle "conserver du moins le souvenir des dites quartiers qui vont disparaître." (80) Bald aber sollte sich die Fotografie als das dokumentarische Medium par excellence erweisen. Im Zuge der Arbeiten an der von Haussmann angeregten Histoire Générale de Paris wurden systematisch Quellen zur Stadtgeschichte wie Zeichnungen, Radierungen oder auch Stadtpläne reproduziert; schließlich ließ die Administration auch systematisch Fotografien der zu zerstörenden Straßenzüge anfertigen: Nicht zuletzt die über 400 Aufnahmen des alten Stadtzentrums von Charles Merville sind auf diese Weise entstanden. Überzeugend kann de Wolf zeigen, dass Mervilles Arbeiten weder nostalgisch-melancholische Blicke auf eine dem Untergang geweihte alte Welt waren noch (ganz im Sinne der Administration) Anklagen der sozialen und hygienischen Missstände in den heruntergekommenen alten Vierteln, sondern tatsächlich rein dokumentarischen Charakter hatten.
Die enge Verbindung von Druckgrafik und Literatur, die bereits in den Beiträgen von Wedekind und Sueur-Hamel angeklungen war, stellt Vera Klewitz in das Zentrum ihres Beitrags, der sich der von Pierre-Jules Hetzel herausgegebenen, reich illustrierten Literaturzeitschrift Le diable à Paris widmet, in der Mitte der 1840er Jahre eine ganze Reihe durchaus bedeutender Autoren (darunter Balzac, Georges Sand, Gérard de Nerval u.a.) historische, sozialkritische und erzählerische Texte (oft mit einem humoristisch-satirischen Unterton) über das Leben in der Seine-Metropole veröffentlichten. Exemplarisch deutlich wird das Zusammenspiel von Text und Bild in Bertalls "Schnitt durch ein Pariser Wohnhaus", das 1846 in den zweiten Band der Zeitschrift aufgenommen wurde: Der Künstler, der die soziale Differenzierung in einem typischen, fünfstöckigen Pariser Wohnhaus darstellt, hatte darin erkennbar Motive aus Balzacs Le Père Goriot aufgenommen. In ihrer eindringlichen Analyse legt Klewitz einerseits einige der Bildquellen des Künstlers offen - etwa Spitzwegs "Armer Poet", ganz offensichtlich Vorbild eines der verarmten Bewohner der Dachmansarden -, andererseits zeigt sie die enorme Langzeitwirkung, die Bertalls Bildidee einer gezeichneten Sozialreportage entfalten sollte.
Bilden die vier bisher genannten Beiträge mit ihren vielfältigen (leider jedoch nicht explizit diskutierten) wechselseitigen Bezügen einen klar erkennbaren thematischen Zusammenhang (zu dem auch der abschließende Aufsatz des Mitherausgebers Steffen Haug über die Rezeption der Druckgrafik des 19. Jahrhunderts in Walter Benjamins "Passagen-Werk" gezählt werden kann), so gilt dies für die übrigen drei Beiträge nur noch sehr bedingt. So analysiert Guillaume Le Gall in seinem - durchaus lesenswerten - Aufsatz über das Diorama Louis Daguerres weniger Paris-Bilder, also Repräsentationen der Stadt, als vielmehr Welt-Bilder - war doch die neue Technologie vor allem ein Mittel, dem Pariser Publikum ferne Landschaften oder Städte und historische Szenen näherzubringen. Salvatore Pisani hingegen beschäftigt sich in seinem Beitrag mit der Veränderung im Pariser Stadtbild selbst und zeigt, welche Auswirkungen der Siegeszug des Gusseisens auf den urbanen Raum hatte, der innerhalb weniger Jahre mit Straßenlaternen, Kiosken, Sitzbänken, Bedürfnisanstalten und Litfaßsäulen ausgestattet wurde. Das "mobilier urbain" habe den "Boulevard als verlängerte Wohnstube" (144) erscheinen lassen; es habe somit nach den Verwerfungen von Stadterneuerung (Haussmann), Krieg und Bürgerkrieg (1870/71) eine unmittelbar sozial integrative Funktion gehabt. Beat Wyss wiederum analysiert die Pariser Weltausstellung von 1889, bei der Frankreich nicht nur den Eiffelturm, sondern auch erstmals in einer eigenen Sektion das im Entstehen begriffene Kolonialreich präsentierte, als "Laboratorium der globalisierten Gesellschaft".
So interessant auch Wyss' Ausführungen über den Zusammenhang von Massenkonsum, Kolonialwaren und Populärkultur für sich genommen sind, so groß ist doch der inhaltliche Graben, der sie von den übrigen Beiträgen trennt. Inwiefern Daguerres Diorama, das gusseiserne Stadtmobiliar und die Weltausstellungen als Bildmedien verstanden werden können, die, wie die Herausgeber in der Einleitung versprechen (13) "eine je spezifische Vorstellung der Stadt geformt haben", erschließt sich mir nicht. Umgekehrt kann man bedauern, dass einige Bildmedien, die bis in das 20. Jahrhundert hinein ganz sicher eine solche prägende Wirkung für die "Paris-Bilder" gehabt haben, in dem Sammelband nicht thematisiert werden, etwa die Karikatur oder auch die Malerei der Impressionisten. Aber auch wenn man sich insbesondere im zweiten Teil eine etwas größere thematische Kohärenz hätte wünschen können, ist als Fazit festzuhalten, dass den Herausgebern und ihren Autoren ein lesenswerter Band gelungen ist, der die Doppelrolle von Paris als Gegenstand medialer Bildproduktionen und als Ort der Produktion von Bildmedien in vielfältigen Facetten diskutiert.
Daniel Mollenhauer