Rezension über:

Katrin Boeckh (Hg.): Galizien und die Galiziendeutschen (1914-1940). Kontext und Quellen, Herne: Freunde der Martin-Opitz-Bibliothek 2018, 267 S., ISBN 978-3-923371-45-7, EUR 24,00
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Rezension von:
Nino Gude
Doktoratskolleg Galizien, Universität Wien
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Nino Gude: Rezension von: Katrin Boeckh (Hg.): Galizien und die Galiziendeutschen (1914-1940). Kontext und Quellen, Herne: Freunde der Martin-Opitz-Bibliothek 2018, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 7/8 [15.07.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/07/34620.html


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Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Katrin Boeckh (Hg.): Galizien und die Galiziendeutschen (1914-1940)

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Der zu rezensierende Sammelband basiert auf den Ergebnissen einer Sommerschule an der Ukrainischen Katholischen Universität Lemberg, die im September 2017 stattfand. Untersuchungsgegenstand sind die Galiziendeutschen in der Zwischenkriegszeit. Ziel ist es, deren Geschichte sowohl in die regionalen als auch in die überregionalen Netzwerke einzubeziehen. Dabei liegt der Fokus auf der Verflechtung der Galiziendeutschen in transnationale Netzwerke und deren möglichen Auswirkungen auf individuelle und kollektive Identitäten (9). Methodisch orientiert sich die Arbeit an Michael Werners und Bénedicte Zimmermanns Ansatz der histoire croisée; bei der Betrachtung der historischen Region Galizien soll die nationale Perspektive durch einen transnationalen Blick ersetzt werden. Dieser methodische Ansatz wird der kulturellen und ethnischen Vielfalt in dem habsburgischen Kronland vollauf gerecht. In diesem Zusammenhang verweist Katrin Boeckh in ihrer Einführung auf ausgewählte Arbeiten, in denen die Multikulturalität Galiziens Gegenstand der Untersuchung ist. Der Multikulturalität der Region widmet(e) sich auch das Doktoratskolleg Galizien an der Universität Wien, das aufgrund der Interdisziplinarität seiner Forschungen internationale Anerkennung erlangt hat und das in diesem Zusammenhang durchaus hätte erwähnt werden können.

Der Sammelband besteht aus zwei Teilen: Artikeln und Quellentexten. Die Beiträge des ersten Teils versuchen, Galizien in der (west)europäischen Geschichte zu verorten und aufzuzeigen, dass das "deutsche Element" dort ebenfalls einen Platz hatte. Der zweite Teil besteht aus 27 historischen Quellentexten, die aus verschiedenen Bibliotheken und Archiven stammen und neue Perspektiven auf den Alltag der Galiziendeutschen ermöglichen sollen. Die Auswahl der Quellen erfolgte mit Bezug auf die politische, soziale und kulturelle Situation in Galizien.

Der Beitrag von Thomas Wünsch entkräftet die einseitige Betrachtung der deutschen Kolonisation im östlichen Europa anhand der Verflechtungen und Synergien deutscher und slawischer Rechtsordnungen, zu denen es im Zuge der Besiedlung gekommen war. Oleksiy Kurayev beschäftigt sich mit der Rezeption der "ukrainischen Frage" im 19. Jahrhundert, die einerseits in politischen Kreisen in Berlin und Wien diskutiert wurde, andererseits durch künstlerische Darstellungen des Hetmans Ivan Mazepa in der französischen Malerei ihren Ausdruck fand. Die machtpolitischen und demografischen Veränderungen Lembergs werden im Beitrag von Juri Durkot anhand der dort zu verschiedenen Zeiten erfolgten Straßenumbenennungen verdeutlicht. Wenn der Autor allerdings schreibt, dass sich "Turgenev noch bis 2008 halten konnte, er aber gegen die Helden der UPA schließlich keine Chance hatte" (86), lässt er zumindest Raum für Missverständnisse, da er den Straßennamen der "Helden der UPA" nicht eindeutig als solchen kennzeichnet. Es ist gut möglich, dass dies nur dem Schreibstil des Autors geschuldet ist, die Beurteilung der UPA als "heldenhaft" hätte in einer wissenschaftlichen Arbeit jedenfalls keinen Platz und würde den Anspruch des Sammelbandes konterkarieren, einen von nationalen Ressentiments freien Blick auf den Untersuchungsgegenstand zu gewährleisten. Stefaniya Ptashnyk zeichnet den Stellenwert der deutschen Sprache im habsburgischen Galizien von 1772 bis 1918 sowie in der Zwischenkriegszeit nach. Dabei werden auch das Schul- und das Pressewesen als zentrale Elemente der deutschsprachigen Kultur Galiziens berücksichtigt. Der deutsch-ukrainische Sprachkontakt steht im Beitrag von Lyudmyla Boyarova im Mittelpunkt, wobei die Autorin hauptsächlich auf die Angaben zur deutschen Herkunft bestimmter Wörter der ukrainischen Literatursprache in enzyklopädischen Nachschlagewerken verweist.

Während die bisher vorgestellten Beiträge nicht immer einen klaren thematischen Bezug zu den Galiziendeutschen und ihrer Umgebung herstellen, ist er bei Brygida Helbig deutlich zu erkennen. In ihrem Beitrag wertet sie die unveröffentlichten Erinnerungen von Heinrich Wolf aus, einem deutschen Siedler aus Steinfels, der das Alltagsleben der Deutschen und anderer Dorfbewohner nachgezeichnet hat. Laut Wolf waren für die Galiziendeutschen in Steinfels Schule und Kirche identitätsstiftend; zwar gab es auch mit Polen, Ukrainern und Juden Kontakte im Alltag, doch war man bestrebt, die "deutsche Identität" zu bewahren.

Das Zusammenleben von Deutschen und Nichtdeutschen in Galizien wurde bisher in der Forschung wenig beachtet [1], weshalb die Zusammenstellung von Quellentexten im zweiten Teil des Sammelbandes einen ersten Beitrag zur Schließung dieser Lücke leistet und als Ausgangspunkt für zukünftige Forschungen dienen kann. Hauptsächlich wurden staatliche und kirchliche Dokumente ausgewählt, die Rückschlüsse auf die politische und gesellschaftliche Situation der Galiziendeutschen ermöglichen. Interessant sind die Statistiken zu den Zöcklerischen Anstalten im heutigen Ivano-Frankivs'k, die auch Personen anderer Religionen offenstanden (185 ff.). Wären die Beiträge mit Bezug auf die Quellentexte verfasst worden, wäre der Sammelband seinem Anspruch, den Fokus auf das Zusammenleben der Galiziendeutschen mit ihren Nachbarn zu legen, deutlich besser gerecht geworden.


Anmerkung:

[1] Ausführlich beschreibt Isabel Röskau-Rydel die Kontakte von zehn deutsch-österreichischen Beamtenfamilien mit Polen, Ukrainern und Juden. Vgl. Isabel Röskau-Rydel: Zwischen Akkulturation und Assimilation. Karrieren und Lebenswelten deutsch-österreichischer Beamtenfamilien in Galizien (1772-1918), München 2015.

Nino Gude