Jeffrey James Byrne: Mecca of Revolution. Algeria, Decolonization, and the Third World Order (= Oxford Studies in International History), Oxford: Oxford University Press 2016, XVII + 388 S., ISBN 978-0-19-989914-2, GBP 41,99
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In Mecca of Revolution untersucht der britische Historiker Jeffrey James Byrne - seit 2009 Assistenzprofessor an der University of British Columbia - die enge Verbindung Algeriens mit der Dritten Welt-Bewegung (Third-Worldism) von ihren Anfängen nach dem Ersten Weltkrieg bis zum Militärputsch von 1965 in Algerien. In insgesamt fünf Kapiteln zeichnet Byrne den Weg der algerischen Unabhängigkeitsbewegung von einem Empfänger revolutionärer Ideen zu einem zentralen, revolutionären Akteur der Bewegung auf dem afrikanischen Kontinent nach. Als unabhängiger Staat trug Algerien schließlich maßgeblich zur institutionellen Festigung und geographischen Ausweitung der Dritten Welt-Bewegung bei, die sich unter den Bedingungen der Blockkonfrontation als eigenständige Kraft zu etablieren suchte.
Byrne stützt sich hauptsächlich auf Akten der algerischen Nationalen Befreiungsfront FLN (Front de libération nationale) sowie des algerischen Außenministeriums, die trotz teilweiser fehlender Systematik einen einmaligen Blick in den Unabhängigkeitskampf Algeriens und seine postkoloniale Geschichte erlauben. Archivaufenthalte in Serbien, Frankreich, Großbritannien und in den USA runden das Bild teilweise ab, doch geht Byrnes multiarchivalische Arbeit nur teilweise mit einer Multiperspektivität einher. Der Fokus von Mecca of Revolution liegt eindeutig auf der algerischen Sicht, wodurch dem Leser der Eindruck vermittelt wird, dass Algerien sich innerhalb weniger Jahre zum Dreh- und Angelpunkt der Dritten Welt entwickelte.
Die ersten beiden Kapitel zeichnen das algerische Streben nach Unabhängigkeit von Frankreich seit der Kolonialisierung im 19. Jahrhundert bis zur Erringung der Eigenstaatlichkeit im Jahr 1962 nach. Spannend wird die zunehmende Politisierung einiger Teile der kolonialisierten algerischen Bevölkerung dargestellt, die den Grundstein für den späteren Unabhängigkeitskampf legte. Byrne gelingt es, das Geflecht aus konkurrierenden Ideologien treffend darzustellen, mit - zu Beginn des 20. Jahrhunderts - Wilsonianismus und Leninismus an der Spitze, die als Inspirationsquelle für den antikolonialen Kampf dienten. "Two praxes of anticolonial action - the diplomatic and the revolutionary - began in Algeria in response to the pronouncements of Woodrow Wilson and Vladimir Lenin in 1918, were then practiced in parallel for three decades by a succession of movements, and finally converged in 1954 in the founding of the FLN" (19).
Zu Beginn des Unabhängigkeitskampfs konnte der FLN zunächst geschickt diese beiden politischen Strömungen gewinnbringend nutzen und sich international als neutrale, wenn auch revolutionäre Kraft mit guten Beziehungen zu allen Seiten verkaufen. Doch die selbstauferlegte fehlende politische Positionierung im immer stärker polarisierten internationalen System stieß bei der dringenden Suche nach Verbündeten bereits frühzeitig an ihre Grenzen. Während der Westen der algerischen Sache aus Solidarität mit Frankreich grundsätzlich ablehnend gegenüberstand und die neuen bündnisfreien Staaten sich als zu schwach für eine substantielle Unterstützung der provisorischen algerischen Regierung GPRA sahen, gab sich der Ostblock zunächst mit Lippenbekenntnissen zufrieden und sprach den Algeriern lediglich seine grundsätzliche Unterstützung aus. Durch diplomatisches Geschick gelang es den Auslandsvertretern der FLN schließlich, China und die Sowjetunion gegeneinander auszuspielen. Dies verbesserte nicht nur ihre militärische Position im Kampf gegen die französischen Truppen, sondern brachte sie sogar in die komfortable Situation, andere nationale Befreiungsbewegungen in Afrika unterstützen zu können. Diese erfolgreiche Verbindung von Diplomatie und revolutionärem Vorgehen war ein wesentlicher Aspekt des algerischen Unabhängigkeitskampfs, blieb von der Forschung bisher aber unterbelichtet. Bedauerlicherweise wird die ideologische Verankerung der algerischen Entscheidungsträger von Byrne nur unzureichend besprochen. Dies lässt den Leser letztlich ratlos zurück hinsichtlich der Frage, ob die wiederkehrende algerische Anlehnung an den kommunistischen Block aus innerer Überzeugung oder aus Opportunismus erfolgte.
In den letzten drei Kapiteln stellt Byrne den schwierigen Weg dar, den die politischen Entscheidungsträger um Staatspräsident Ahmed Ben Bella nach Erlangung der politischen Unabhängigkeit 1962 gehen mussten, um die Ideale der Dritten Welt-Bewegung in eine unabhängige und solidarische Außen- und Wirtschaftspolitik umzumünzen. Das Fehlen eines konkreten politischen und wirtschaftlichen Programms sollte sich hierbei für die FLN als wesentliche Herausforderung darstellen. Diese musste sich von einer Befreiungsfront, die alles der Unabhängigkeit unterordnete, zu einer veritablen staatstragenden Partei entwickeln, mit stringenten, umfassenden politischen Zielen, Strukturen und Narrativen. Das setzte eine Professionalisierung der einstigen Freiheitskämpfer zu politischen und diplomatischen Eliten voraus. Dieser Neufindungsprozess musste zudem unter extrem herausfordernden äußeren und internen Bedingungen stattfinden. Außenpolitisch begann sich die Blockkonfrontation in Afrika zu intensivieren bei gleichzeitiger Fragmentierung der Dritten Welt-Bewegung, die nicht zuletzt aus zahlreichen binationalen Konflikten resultierten. Innenpolitisch befand sich zudem die algerische Wirtschaft nach den die Unabhängigkeit besiegelnden Verträgen von Evian im freien Fall: 70 Prozent der aktiven Bevölkerung war arbeitslos und zu großen Teilen von humanitären Hilfslieferungen aus dem Ausland abhängig. Bei der Betrachtung der letztgenannten Dimension ist Byrnes' primärer Fokus auf die algerische Außenpolitik äußerst hinderlich. Der Autor bleibt so in der Perspektive der damaligen Eliten Algeriens gefangen, die er teilweise sehr unkritisch, zuweilen sogar schmeichelhaft nachzeichnet. Die desaströsen Lebensbedingungen der algerischen Bevölkerung sowie weniger glorreiche Abschnitte der frühen Geschichte des algerischen Staates - der algerische Bruderkrieg auf beiden Seiten des Mittelmeers oder auch der aufkommende Islamismus - hätten durchaus, auch unter dem Aspekt des Third Worldism, mehr Beachtung verdient.
Abschließend lässt sich festhalten, dass Mecca of Revolution den Leser dank Byrnes' beachtlicher Archivarbeit und origineller Fragestellung tief in die politische Auseinandersetzung Algeriens um Selbstbehauptung als eigenständiger Staat und als zentrales Mitglied der Dritten Welt eintauchen lässt. Es verdeutlicht einerseits, wie stark die praxeologische Anlehnung an die kommunistischen Staaten war, unter anderem während des algerischen Unabhängigkeitskampfs. Das Buch eröffnet zudem neue Einblicke in die außenpolitische und außenwirtschaftliche Süd-Süd-Kooperation, in der sich die ehemalige kolonialisierte Welt erstmals nach Jahrhunderten europäischer Herrschaft durch die Wiederkehr nicht-westlicher Diplomatie als außenpolitisch eigenständige, von den ehemaligen Metropolen unabhängige Kraft etablieren konnte.
Jéronimo L. S. Barbin