Rezension über:

Frank Ursin: Freiheit, Herrschaft, Widerstand. Griechische Erinnerungskultur in der Hohen Kaiserzeit (1.–3. Jahrhundert n. Chr.) (= Historia. Einzelschriften; Bd. 255), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2019, 340 S., 11 Tbl., ISBN 978-3-515-12163-7, EUR 63,00
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Rezension von:
Muriel Moser
Goethe-Universität, Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Muriel Moser: Rezension von: Frank Ursin: Freiheit, Herrschaft, Widerstand. Griechische Erinnerungskultur in der Hohen Kaiserzeit (1.–3. Jahrhundert n. Chr.), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2019, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 9 [15.09.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/09/32873.html


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Frank Ursin: Freiheit, Herrschaft, Widerstand

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Bei der vorliegenden Monographie handelt es sich um die überarbeitete Promotionsschrift des Autors. Frank Ursin geht darin der Frage nach, welche Rückschlüsse Vergangenheitsbezüge bei Autoren der Zweiten Sophistik auf deren Einstellung zur römischen Herrschaft zulassen. Im Fokus der Untersuchung stehen einschlägige Passagen aus den Werken der bekanntesten Vertreter dieses Literaturkanons (allen voran Plutarch und Pausanias, aber auch Dion Chrysostomos, Aelius Aristides und Lukian), in denen Widerstand gegenüber fremden Mächten thematisiert wird. Weitere Aspekte, die in der Monographie behandelt werden, sind die griechische Erinnerungskultur und politischer Widerstand gegenüber Rom.

Fragestellung, Forschungsstand, Quellen und Aufbau der Untersuchung werden in der Einleitung (9-37) dargelegt. In einem weiteren einführenden Kapitel (38-76) stellt Ursin einige grundlegende Thesen seiner Studie vor. Dies ist nötig, weil diese nicht mit dem Grundtenor der Forschung übereinstimmen oder in einem weitem Forschungsfeld verortet werden müssen. Ursins Einteilung der Bewohner des griechischen Ostens etwa verwirft die Vorstellung eines harmonischen Zusammenspieles von römischer und griechischer Identität, die in der Forschung viel Zuspruch erhalten hat. Stattdessen grenzt er Römer und Griechen allein aufgrund ihrer Herkunft streng voneinander ab. Im zweiten Teil des Kapitels positioniert Ursin seine Untersuchung in den aktuellen Debatten zu Erinnerung und Vergangenheitskulturen/-bezügen bei antiken Autoren. Er erkennt in den von ihm betrachteten Rückgriffen auf die Vergangenheit kontrapräsentische Vergangenheitsbezüge, die aus einer Defizienzerfahrung heraus die Vergangenheit positiv gegenüber einer als negativ gewerteten Gegenwart abheben. Ihnen ist eine kritische Funktion inne, die Ursin näher untersuchen will.

Der Hauptteil der Diskussion ist in fünf Teile unterteilt. Kapitel drei betrachtet zunächst Plutarchs Praecepta gerendae reipublica über den Umgang mit der griechischen Vergangenheit unter Rom. In diesem Werk, von dem Ursins Studie stark geprägt ist, erkennt er eine Anleitung für eine alternative Erinnerungskultur. So argumentiere Plutarch hier, anstelle der potentiell gefährlichen Erinnerung an den griechischen Freiheitskampf sei eher jener Episoden der griechischen Geschichte zu gedenken, die einen guten Umgang mit auswärtigen Feinden thematisieren (Plut. praec. ger. reip. 814a-c, S. 92-103).

In der Untersuchung der Erinnerungskultur der römischen Provinz Achaea (Lokaltraditionen, Feste und die sophistische Tradition) in Kapitel vier kommt Ursin zu dem Schluss, dass diese, entgegen Plutarchs Ratschlag, nicht selten auf Episoden des griechischen Freiheitskampfes (v.a. dem gegen die Perser) rekurrierte. Eine Analyse der reichen numismatischen und epigraphischen Überlieferung hätte hier geholfen, diese Beobachtungen zu verfeinern. Weiterhin analysiert werden Geschichtsbilder und Periodisierungsversuche (Weltreichslisten und andere Periodisierungssysteme) sowie Belege für die Defizienzerfahrung (Eskapismus, Ruinen) der betrachteten Autoren, wobei hier Pausanias besonderes Gewicht zukommt. Das Kapitel endet mit einer Analyse der Rezeption der Zerstörung Korinths, die griechische Epigramme aus der Zeit zwischen dem 2. Jh. v. Chr. und dem 1. Jh. n. Chr. auswertet.

Kapitel 5, 6, und 7 bilden das Herzstück der Monographie. Sie widmen sich den drei Themenblöcken Freiheit, Herrschaft, Widerstand. "Freiheit" thematisiert zunächst die Rezeption von Neros Freiheitserklärung für Griechenland im literarischen Befund. Kernstück des Kapitels bildet die Analyse der Darstellung griechischer Freiheitskämpfe in Pausanias' historischen Exkursen (191-214). Skizziert wird Pausanias' Interesse für den Freiheitskampf Griechenlands, der sich auch in der Wertung Philopoimens als letzter Wohltäter Griechenlands zeige. Auf der Grundlage von Pausanias' Ausführungen verwirft Ursin anschließend moderne Annahmen über einen Wandel des griechischen Freiheitsbegriffs als Teil der römischen Herrschaftsideologie.

Das Kapitel "Herrschaft" will sodann Gründe für Kritik römischer Herrschaft im Medium des Vergangenheitsbezugs erörtern. Auf Kosellecks Überlegungen zur Rolle der Besiegten in der Geschichtsschreibung aufbauend ermittelt Ursin, wie seine Autoren Roms historische Erfolge (v.a. auf militärischer Ebene) im Spannungsfeld zwischen Glück und Tapferkeit ("Tyche" vs. "Arete") verorten. Interessant ist Ursins Beobachtung, der er im zweiten Teil des Kapitels nachgeht: Roms Sieg sei durch die Betonung der griechischen Schuld an der Niederlage Griechenlands geschmälert worden. Eine solche Tendenz erkennt Ursin etwa in Pausanias' Betonung der Rolle der griechischen Anführer, die von Polybius (noch) anders gewertet wurde (257-264).

Besonders das letzte Kapitel "Widerstand" ist stark von Plutarchs Warnung geprägt. Es verlässt den Bereich der philologischen Diskussion und wirf die historische Frage auf, inwiefern die Erinnerung an den Freiheitskampf zu Aufständen gegen Rom geführt habe. Ein Überblick über bezeugte Aufstände in Achaea und anderen griechischen Teilen des römischen Reiches belegt eine nicht immer störungsfreie Beziehung zu Rom. Behandelt wird auch die Frage nach belegten oder angedeuteten Staseis als mittelbare Folge römischer Herrschaft. Einer kurzen abschließenden Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse der Studie folgen Literaturverzeichnisse und drei Register.

Ursins Studie liefert viele anregende Überlegungen zur Aktualisierung griechischer Vergangenheit und insbesondere der Erinnerung an den griechischen Freiheitskampf als Kritik an Rom. Die Forderung, dass Vergangenheitsbezüge bei Autoren der Zweiten Sophistik mit Identitätsfragen oder gar Widerstand gegen Rom in Verbindung gebracht werden müssen, wird aber vielleicht nicht alle Leser*innen überzeugen. Möglicherweise beobachten wir die griechischen Autoren hier auch (nur) bei dem Versuch, die vorherrschenden politischen Strukturen zu kritisieren, ohne dem Verdacht der Kaiserkritik anheim zu fallen. Unklar bleibt, in welchem Maße die Geschichte des Freiheitskampfes der Städte Achaias - denn dies ist der Freiheitskampf, der in den von Ursin erörterten Passagen thematisiert wird - identitätsbildend alle griechisch-sprachigen Region des römischen Reiches war. Wie Ursins Beschränkung auf Achaia in Kapitel 4 suggeriert, könnte es sich hier um ein lokal begrenztes Phänomen handeln, das über die Region hinaus Strahlkraft entwickelte. Manches hätte auch eleganter formuliert sein können. Ungeachtet dessen gelingt es Ursin, durch den Fokus auf die Rezeption des griechischen Freiheitskampfes bei griechischen Autoren der römischen Zeit der Diskussion über ihre politischen Aussagen neue Impulse zu geben. Die Studie enthält zudem interessante Beobachtungen über die historischen Exkurse der betrachteten Autoren, allen voran Plutarch und Pausanias.

Muriel Moser