Rezension über:

Martin Rempe: Kunst, Spiel, Arbeit. Musikerleben in Deutschland, 1850 bis 1960 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 235), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020, 400 S., 11 s/w-Abb., 6 Tbl., ISBN 978-3-525-35250-2, EUR 60,00
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Rezension von:
Friedemann Pestel
Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg/Brsg.
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Friedemann Pestel: Rezension von: Martin Rempe: Kunst, Spiel, Arbeit. Musikerleben in Deutschland, 1850 bis 1960, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 10 [15.10.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/10/33845.html


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Martin Rempe: Kunst, Spiel, Arbeit

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Die Beschäftigung mit Musik verschiedenster Genres hat sich als produktives Forschungsfeld für politik-, sozial-, kultur- und globalgeschichtliche Ansätze etabliert. Im Gegensatz zu den meisten Arbeiten, die sich mit der Aneignung und Wirkung musikalischer Aufführungen beschäftigten, nimmt Martin Rempes Konstanzer Habilitationsschrift die Arbeitswelten von Musikerinnen und Musikern in Deutschland in den Fokus.

Mit ihrer Dreiersemantik von musikalischer Tätigkeit als Kunst, Spiel und Arbeit kommt der Studie Pioniercharakter zu, bündelt sie doch originell und anschaulich die unterschiedlichen Aspekte des professionellen Selbstverständnisses von Musikern und die auf sie projizierten gesellschaftlichen Erwartungen. Klugerweise ordnet Rempe diese drei Dimensionen nicht a priori einzelnen Genres zu, sondern betrachtet Orchester-, Militär- oder Jazzmusiker gemeinsam. Rempes Zugang zu Musik als kreativer Arbeit erfolgt über fünf Leitthemen: Ausbildung, Arbeitsbedingungen, professionelle Selbstreflexion, Mobilität und Medialität. Indem die Studie auf professionelle Organisationsstrukturen von Musikern wie auf einzelne Biografien blickt, erschließt sie die objektivierenden und individuellen Dimensionen des doppelsinnigen titelgebenden Kompositums Musiker-Leben/Musik-Erleben. Dies eine "Musikgeschichte von unten" (10) zu nennen mag indes eine reflexhafte Reaktion auf die ältere Gipfelwanderungsliteratur darstellen oder einer in der Geschichtswissenschaft immer noch aufkommenden Skepsis gegenüber "klassischer" Musik geschuldet sein. Das Buch jedenfalls handelt vom langen Kampf von Berufsmusiker/innen um einen Platz in der "Mitte der Gesellschaft" (231), die ein guter Teil von ihnen im 20. Jahrhundert auch erreichte.

Die elf Kapitel sind in drei Teile aufgegliedert, über die Rempe sein "Musiker-Jahrhundert" periodisiert. Die Lebenswelten im 19. Jahrhundert warten gleich mit einer Überraschung auf: Die Professionalisierung des Musikerberufs beginnt hier zwar klassisch in Mendelssohns Leipzig, allerdings aus der Perspektive des Orchestermusikers Wilhelm Wieprecht, der anschließend zu einem Pionier der Militärmusik wurde. Deren eminente Bedeutung für das deutsche Musikleben herauszustellen ist Rempe ein besonderes Anliegen. Neben einer systematischen Untersuchung der Entstehung und Profilierung der wichtigsten Musikerverbände (Kap. 2) und einem vielschichtigen Einblick in die schwierige soziale Position professioneller Musikerinnen (Kap. 4) bildet das Kapitel "Musikerelend" zu Ausbildungs- und Berufswegen um 1900 ein Highlight (Kap. 3). Von Lehrlingskapellen, der Dauerrivalität ziviler Ensembles mit der subventionierten Militärmusik und astronomischen Dienstpensa an Stadttheatern werden viele Leser hier zum ersten Mal etwas erfahren. Mit treffsicheren Pointen gegenüber einer konventionellen Betrachtung großer Karrieren oder kulturnationalistischen Lesarten bindet Rempe ebenso Genrefragen mit ein wie die wachsende Musikermobilität.

Die Projekte der Professionalisierung des zweiten Teils stellen zwischen spätem Kaiserreich und Weimarer Republik ein Berufsfeld vor, in dem kollektive "Selbstzivilisierung und Lobbyarbeit" (Kap. 5) den Weg zu Statusverbesserungen ebneten. Die wachsende Verrechtlichung des Musikerberufs und die entstehenden Subventionsregime heben den deutschen Musikbetrieb bis heute international ab. Für den Ersten Weltkrieg (Kap. 6) überzeugt Rempes These von Musikern als doppelten Kriegsgewinnlern, die im Stellungskrieg von den Ressourcen für die Truppenunterhaltung profitierten und zu Hause angesichts hoher Nachfrage weitere Statusverbesserungen durchsetzten. Während das Kapitel zu den Musikerverbänden des frühen 20. Jahrhunderts den Eindruck einer gemeinsamen Interessenorientierung relativiert (Kap. 7), erweist sich die Betrachtung der musikalischen Tätigkeitsfelder in der Weimarer Republik als eine Scharnierstelle des Buchs (Kap. 8). Jenseits ausgetretener interpretatorischer Pfade einer modernistischen "Weimarer Kultur" bzw. ihrer reaktionären Gegenkräfte präsentiert Rempe die 1920er Jahre als einen mehrfachen Aufbruch ins weitere 20. und 21. Jahrhundert, den Medienwandel (Tonträgerindustrie, Rundfunk, Kinomusik) und Subventionsregime ebenso prägten wie die teilweise Verselbstständigung der Unterhaltungsmusik. Rempe illustriert die Erwartungen und Enttäuschungen dieser Umbruchsphase wiederum an Musikerlebensläufen, die dort besonders erhellend sind, wo der Leser ihnen wie im Falle des Geigers (Al)Fred Malige bereits begegnet ist und ihnen auch im Weiteren folgen kann. Mobilitäts- und geschlechtergeschichtliche Schlaglichter umreißen zudem, wo Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg als Tätigkeitsfeld für Musiker und Musikerinnen offen war und vor allem wo auch nicht.

Im dritten Teil zu Krise, Kollaps, Kontinuitäten des Musikerberufs von der Weltwirtschaftskrise bis in die frühe Bundesrepublik erweist sich die große Stärke des langen Untersuchungszeitraums. Gegenüber einem Forschungsstand, der eine breitere Einordnung der "toten Enden" (Pamela Potter) der NS-Debatte mehr postuliert als umsetzt, kommt Rempe für die Frage der Dis-/Kontinuitäten wie der ideologischen Polarisierungen zu erhellenden Befunden. Dass die Reichsmusikkammer mit "rechtem Personal" eine ursprünglich "linke" Reformagenda des Musikerverbands umsetzte und 1938 eine Orchestertarifordnung schuf, die im Kern bis heute Bestand hat, bleibt haften (Kap. 9). Bedenkenswert wie diskussionswürdig ist die radikal mobilitätsgeschichtliche Interpretation des Zweiten Weltkriegs: Unter "Zwangswanderungen" (Kap. 10) fasst Rempe die musikalische Emigration ebenso wie den Einsatz in der musikalischen Truppenbetreuung, professionelles Musizieren in Ghettos und Konzentrationslagern oder zum Kriegsdienst eingezogene Musiker.

Wenn Rempe für die beiden Nachkriegsjahrzehnte mit der "Stunde der Orchestermusiker" (Kap. 11) in einen Kernsektor des deutschen Musiklebens vorstößt, so schildert er das Ankommen dieser professionellen Gemeinschaft im westdeutschen Sozialstaat gerade deshalb auf originelle Weise, weil er aus dem Wissen um die Vielfalt des Musikerberufs, die langen Kämpfe um professionelle Interessen und die sich wandelnden Rollen von Gewinnern und Verlierern schöpft. Zu Letzteren zählten in Deutschland bis über die Jahrhundertmitte hinaus vor allem ausländische Musiker sowie Musikerinnen.

Das Fazit bündelt nicht nur die Kernargumente des Buches, sondern verortet die deutschen Entwicklungen in ihrer Langzeitperspektive des 19. und 20. Jahrhunderts zugleich im internationalen Kontext. Es unterstreicht, dass Rempes Musik-Er-Leben in einem offenen Deutschland situiert ist.

Einige Punkte laden zur weiteren Diskussion ein: die Abgrenzung von professionell-"modernem" und vorprofessionell-"vormodernem" Musikerleben, die etwa ein Blick ins Wien der Beethoven-Zeit in ein dynamischeres Licht transformativer Professionalisierungsprozesse rücken könnte; die Kategorie "kreative Arbeit", an der sich Rempe soziologisch orientiert, obwohl er "Kreativität" nicht zu einem Analysekonzept erheben will (12); die methodische Frage, ob sich für die Berufspraxis von Musikern Wege in und aus dem Beruf leichter fassen lassen als der tatsächliche Arbeitsalltag; oder manche Gewichtung des ("klassischen") Establishments gegenüber frei(er)en, unangepassteren und prekäreren Musikerexistenzen, denen Rempes besonderes Interesse gilt. Die Corona-Krise bestätigt aktuell zwar die ungleichen Positionen dieser Gruppen im Musikbetrieb; zugleich schärft sie aber auch den Blick für die grundsätzliche Resilienz seiner Institutionen, Strukturen und Akteure.

Kunst, Spiel, Arbeit schließt Musikerleben in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert grundsätzlich neu auf. Das Buch setzt analytische Maßstäbe und leistet einen fruchtbaren Beitrag zur Diskussion um den methodischen Ort einer Musik-Geschichte als Musiker-Geschichte. Dank seiner stringenten Struktur lädt es gleichfalls zum themenübergreifenden und interdisziplinären Querlesen und -denken ein. Dergestalt ist das Buch ein durchweg gelungener Multiplikator für die Musik-Geschichte sowohl innerhalb der Geschichtswissenschaft als auch für die Nachbardisziplinen.

Friedemann Pestel