Rezension über:

Jan-Philipp Horstmann: Halbamtliche Wissenschaft. Internationale Statistikkongresse und preußische Professorenbürokraten, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2020, XI + 300 S., ISBN 978-3-506-70296-8, EUR 129,00
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Rezension von:
Alexander Mayer
Universität der Bundeswehr München
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Alexander Mayer: Rezension von: Jan-Philipp Horstmann: Halbamtliche Wissenschaft. Internationale Statistikkongresse und preußische Professorenbürokraten, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2020, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 10 [15.10.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/10/33988.html


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Jan-Philipp Horstmann: Halbamtliche Wissenschaft

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Die Forschung interessiert sich schon länger für die Geschichte der Statistik, da diese eng mit der Entwicklung moderner Staatlichkeit verwoben und statistische Kategorienbildung für die Konstruktion sozialer Wirklichkeiten bedeutsam ist. Horstmanns Studie widmet sich dem Bemühen von Statistikexperten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Rahmen des Internationalen Statistischen Kongresses (1853-1876) und des Internationalen Statistischen Instituts (seit 1885), Kategorien und Erhebungsmethoden anzugleichen und ihr Fach dadurch wissenschaftlich zu profilieren.

Zur Geschichte des Kongresses, der auf Initiative des Belgiers Adolphe Quetelet ins Leben gerufen wurde, liegt bereits eine Monographie Nico Randeraads vor. [1] Diesem folgt Horstmann darin, dass er ein Spannungsverhältnis zwischen den Zielen des internationalen Austausches und der mit nationalen Interessen verflochtenen Entwicklung der Statistik annimmt. Er wendet sich allerdings gegen Randeraads Fazit, der Kongress sei daran gescheitert, und sucht stattdessen am Beispiel der amtlichen preußischen Statistik konkrete Wirkungen des Wissenstransfers nachzuweisen. Als Quellenbasis dienen ihm dazu Akten des preußischen Innenministeriums sowie zeitgenössische Publikationen.

Die Studie gliedert sich in drei Teile. Zuerst zeichnet Horstmann die Entwicklung der Statistik im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert nach und arbeitet die Grundlagen für die "Veramtlichung" der Statistik heraus, die zu einem "disziplinimmanente[n] Dualismus zwischen einer Akademisierung einerseits und einem zunehmend auf amtliche Interessen ausgerichteten Verständnis des statistischen Wissenschaftsbegriffs andererseits" geführt habe (46).

Horstmann zeigt die unterschiedlichen Entwicklungen der amtlichen Statistik in mehreren europäischen Ländern sowie in den USA auf und kommt zu dem Schluss, im preußischen Fall sei aufgrund der engen Anbindung der Statistik an die Verwaltung die Doppelrolle des statistischen Experten als Amtsstatistikers und Wissenschaftlers in Gestalt der "Professorenbürokraten" (67) - den Begriff übernimmt Horstmann von Ian Hacking und Sybilla Köhler - besonders markant ausgeprägt gewesen. Die Dynamik der Internationalisierungsbemühungen sei aus der Spannung zwischen der genannten Veramtlichung und einem maßgeblich von Quetelet geprägten Verständnis der Statistik als eigenständiger, quantitativ verfahrender und auf universale Gesetzmäßigkeiten abzielenden Wissenschaft entstanden.

Der zweite Teil der Studie ordnet den Internationalen Statistischen Kongress in die Geschichte internationaler Wissenschaftskongresse im 19. Jahrhundert ein und hebt als Besonderheit hervor, dass die Statistik zu Beginn der Internationalisierungsbemühungen als Wissenschaft noch nicht voll etabliert war. So prägten Diskussionen um das Verständnis der Statistik als Wissenschaft den Kongress, während das Streben nach internationaler Vergleichbarkeit seinerseits als Teil einer "Anerkennungsstrategie" der Statistik als eigenständigen Faches gesehen werden kann (102). Der Austausch im Rahmen des Kongresses habe einen "halbamtlichen Charakter" (91) getragen. Zu den Mitgliedern des Kongresses zählten nämlich neben individuellen Wissenschaftlern auch öffentliche Institutionen, die Amtsträger repräsentierten. Dies führte nach Horstmanns Analyse zwar einerseits dazu, dass "nationale Interessen" den Diskurs eingeschränkten, erhöhte allerdings auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Ergebnisse des Austausches sich in Reformen der nationalen Amtsstatistik niederschlugen (91).

Letztlich liege aber in der "prekäre[n] Autonomie" des Kongresses der Grund für sein Ende. Daraus hätten die Begründer des Internationalen Statistischen Instituts ihre Lehren gezogen. Die neue Organisationsform habe auf "Privatisierung und Verwissenschaftlichung" abgezielt, ohne allerdings das Ziel aufzugeben, die nationalstaatliche Statistik beeinflussen zu wollen (147). Gegen Randeraad gewandt betont Horstmann: "[D]er Kongress entfaltete durchaus eine nachhaltige Wirkung, die sich [...] in nationalen Reformprozessen niederschlug" (103). Diese Wirkung soll der dritte Teil der Studie belegen, der fünf Reformprozesse in Preußen auf Einflüsse des internationalen Expertenaustausches hin untersucht.

Als Gegenstand wählt Horstmann dabei die Einrichtung einer statistischen Zentralkommission, die Einführung eines statistischen Seminars, die Reform der Gewerbeklassifikation, die Anwendung des Erhebungsverfahrens der Selbstzählung für den Zensus, die Übernahme des metrischen Systems sowie die Bilanzierung volkswirtschaftlicher Kennzahlen. Die Befunde fallen nicht überall gleich deutlich aus: Während etwa die Einrichtung einer statistischen Zentralkommission nach belgischem Vorbild in Preußen 1860 als "direkte Reaktion auf die Verhandlungen des Internationalen Statistischen Kongresses" (178) verstanden werden könne, ist für das statistische Seminar kein direkter Zusammenhang nachweisbar. Interessant ist das Beispiel der Selbstzählung: Der Leiter der preußischen Statistik Ernst Engel nutzte hier den Kongress, um einem von ihm selbst entwickelten Verfahren zur Anerkennung zu verhelfen.

Angesichts des Ziels, "die Darstellung der institutionellen Verflechtungen von Wissenschaft und Politik im Bereich der Statistik" (15) zu analysieren, überrascht es, dass die Studie, mit Blick auf das Verhältnis von Wissenschaft und Politik weitgehend ohne Theoriebezug auskommt. Lediglich der systemtheoretische Begriff der wissenschaftlichen Autonomie ist davon auszunehmen, wobei Horstmann aber nur zwei Arbeiten aus der Diskussion um die sog. "Finalisierung" der Wissenschaft aus den 1970er Jahren heranzieht, während Mitchell G. Ashs einschlägige Überlegungen unberücksichtigt bleiben. [2] Auch eine eingehendere Auseinandersetzung mit Michael C. Schneiders These, die Wissensproduktion der preußischen Amtsstatistik sei nicht von Verwaltungsinteressen determiniert gewesen, sondern habe in erster Linie "autopoietisch" operiert, wäre in diesem Zusammenhang wünschenswert gewesen. [3]

Problematisch erscheint, dass der Verfasser mit feststehenden, aber nicht theoretisch begründeten kategorischen Unterscheidungen wie partikularistisch/universalistisch oder wissenschaftlich/politisch operiert. So formuliert Horstmann mit Bezug auf Engels Versuche, das von ihm entwickelte Verfahren der Selbstzählung auf internationaler Ebene durchzusetzen, der Kongress sei davon bedroht gewesen, "durch spezifische Partikularinteressen einzelner Länder bzw. der von ihnen entsandten Experten instrumentalisiert zu werden", nur um dann festzustellen, dass diese "[p]artikulare[n] Motive" "nicht zwangsläufig im Widerspruch zu den universalistischen Wertvorstellungen des transnationalen Expertenaustausches stehen" mussten (226). Ertragreicher wäre es aus Sicht des Rezensenten gewesen, solche Zuschreibungen als Gegenstand der Auseinandersetzung sowohl innerhalb des Kongresses als auch auf nationaler Entscheidungsebene zu analysieren. Auch der Nachweis von Einflüssen des Kongresses im dritten Teil könnte überzeugender ausfallen, würde die Studie systematisch bestimmte Wirkmechanismen des Ideentransfers herausarbeiten. Dies hätte z.B. der neoinstitutionalistische Ansatz erlaubt, der zwar an einer Stelle zitiert (213f.), aber nicht systematisch anwendet wird.

Letztlich kann die vorliegende Studie daher ihren eigenen Zielen - und insbesondere dem Anspruch, zu einer "Kulturgeschichte der Statistik" (9) beizutragen, - leider nicht vollumfänglich gerecht werden.


Anmerkungen:

[1] Nico Randeraad: States and Statistics in the Nineteenth Century. Europe by Numbers, Manchester 2010; ders.: The International Statistical Congress (1853-1876). Knowledge Transfers and their Limits, in: European History Quarterly 41/1 (2011), 50-65.

[2] Mitchell G. Ash: Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander, in: Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, hg. von Rüdiger vom Bruch, Stuttgart 2002, 32-51; ders.: Wissenschaft und Politik. Eine Beziehungsgeschichte im 20. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 50 (2010), 11-46.

[3] Michael C. Schneider: Wissensproduktion im Staat. Das königlich-preußische Bureau 1860-1914, Frankfurt a. M. 2013. http://www.sehepunkte.de/2014/04/24271.html

Alexander Mayer