Rezension über:

Tim Ayers / Maureen Jurkowski (eds.): The Fabric Accounts of St Stephen’s Chapel, Westminster, 1292-1396, Woodbridge / Rochester, NY: Boydell & Brewer 2020, 1544 S., 10 s/w-Abb., ISBN 978-1-78327-444-4, GBP 150,00
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Rezension von:
Ralf Lützelschwab
Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fischer
Empfohlene Zitierweise:
Ralf Lützelschwab: Rezension von: Tim Ayers / Maureen Jurkowski (eds.): The Fabric Accounts of St Stephen’s Chapel, Westminster, 1292-1396, Woodbridge / Rochester, NY: Boydell & Brewer 2020, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 11 [15.11.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/11/34317.html


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Tim Ayers / Maureen Jurkowski (eds.): The Fabric Accounts of St Stephen’s Chapel, Westminster, 1292-1396

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Die dem Erzmärtyrer Stephanus geweihte Kapelle war der wichtigste von zahlreichen kleinen Kirchenräumen im Palast zu Westminster. Im Rahmen eines größeren, an der Universität York angesiedelten und vom Arts and Humanities Research Council geförderten Forschungsprojekts (St Stephen's Chapel, Westminster: Visual and Political Culture 1292-1941) wurde zuletzt viel über die St Stephen's Chapel gearbeitet. Nahezu zeitgleich mit der vorliegenden Publikation erschien Elizabeth Biggs bemerkenswerte Untersuchung zu St Stephen's als Zentrum eines aus König, der Verwaltung und dem Kapellenpersonal bestehenden Beziehungsnetzes. [1]

Die Palastkapelle wurde ab 1292 von drei englischen Königen - Edward I.-Edward III. - errichtet. Die Arbeiten (unter Einschluss der für die Kanoniker errichteten Gebäude) zogen sich bis 1396 hin. St Stephen's wurde Opfer des verheerenden Großbrandes, der den Palast bzw. die Houses of Parliament 1834 in Schutt und Asche legte. Die königliche Gründung mag deshalb zwar in großen Teilen verloren sein, erhalten geblieben sind jedoch die Abrechnungen für den Bau und die Ausstattung, "one of the richest collections of fabric accounts for a single building to survive from medieval Europe" (1). Heute werden sie in den National Archives at Kew aufbewahrt und bilden die Grundlage für die vorliegende, rund 60 Dokumente umfassende Quellenedition samt Übersetzung. Die Rechnungslegung erfolgte in Rollenform. Verantwortlich dafür war der Exchequer, die königliche, im Westminsterpalast angesiedelte Finanzbehörde. Die Fülle der in den account rolls verzeichneten Details ist enorm. [2]

In einem Anhang wurden drei weitere Dokumente mit ediert, die zwar keine Baurechnungen stricto sensu darstellen, aber gleichwohl bedeutend für das Verständnis des Bauprozesses selbst sind: 1. ein Auszug aus einer Roll, in der die in den 1290er Jahren getätigten, für den Bau von St Stephen's bestimmten Anleihen beim Bankhaus der Ricciardi aus Lucca dokumentiert sind; 2. der Bericht eines Sheriffs von 1350 über die Lieferung eines Altarsteins für die Kapelle; 3. das Abkommen von 1394 zwischen den Kanonikern und den Mönchen von Westminster über zuvor heiß umkämpfte Pfarreirechte in und um den Palast.

Der eigentlichen Edition sind einige Tabellen vorgeschaltet, in denen bereits eine erste Auswertung der fabric accounts vorgenommen wird. Die Bandbreite reicht dabei von einem Kalender, auf dem die arbeitsfreien Feiertage verzeichnet sind (tab. 4), über unterschiedliche Auflistungen von Gehältern für unterschiedliche Berufsgruppen (tab. 5a-c) bis hin zu allgemeinen Kostenaufstellungen (tab. 11a-c).

Wie vom Herausgeber Tim Ayers in seinem Vorwort kompetent erläutert, griff man seit 1795 in Publikationen immer wieder auf die fabric accounts von St Stephen's zurück. Die Kapelle erschien darin bereits zu einem frühen Zeitpunkt als Baudenkmal von nationaler Bedeutung. Insbesondere Kunst- und Architekturhistoriker nutzten die Quellen, gaben dabei aber eben stets nur einen kleinen Einblick in das große Ganze. Dieses große Ganze steht der Forschung nun zur Verfügung. Zum besseren Verständnis skizziert Ayers knapp den Geschäftsgang der königlichen Finanzverwaltung, der einem standardisierten Verfahren folgte: zuerst wurden die diejenigen Gelder gelistet, die dem Bauverantwortlichen zugewiesen wurden, gefolgt von dessen Ausgaben auf wöchentlicher Basis. Waren am Ende beide Positionen ausgeglichen, erfolgte eine Entlastung. Defizite (arrears) bzw. ein Überschuss (surplus) konnten ins neue, stets an Michaelis (29.9.) beginnende Rechnungsjahr übertragen werden. Schied ein Bauverantwortlicher (clerk of works) aus, verfasste er eine Abschlussrechnung, die ein Inventar umfasste (mortuus staurum). Alle account rolls sind auf Latein verfasst, stark abbreviiert und weisen zahlreiche Neologismen auf Anglonormannisch und (später) Englisch auf.

Die fabric accounts liefern nicht nur Informationen über die soziale Herkunft und Ausbildung der Bauverantwortlichen, sondern auch über die Anwerbung, Vertragsbedingungen und Organisation der Handwerker. Hunderte von ihnen tauchen in den edierten rolls mit Namen und der Höhe der erhaltenen Lohnzahlungen auf. Deutlich wird, dass die an "the king's work" beschäftigten Handwerker nicht besser bezahlt wurden als andernorts. Steinmetze waren (mit einigen Unterbrechungen) in den Jahren zwischen 1292-1348 auf der Baustelle beschäftigt. Als Bauverantwortliche nachweisbar sind die Meister (magistri) Michael of Canterbury (1292-97, 1322), Thomas of Canterbury (1323-34), William Ramsey (1337-48) und John Box (ab 1350). Die Rechnungslegung bietet dabei aber keinen vollständigen Überblick darüber, wie die Arbeiten von diesen Meistern beeinflusst und gesteuert wurden, Hinweise auf ordinatio et avisiamentum deuten aber auf planerische Kompetenzen hin. Die Steinmetze, die in zwei Gruppen zerfielen (cubatores für das Legen von Steinen, talliatores für das Meißeln), waren häufiger untereinander verwandtschaftlich verbunden.

Von großer Aussagekraft sind die Passagen, in denen sich die Ausmalung der Kapelle dokumentiert findet. In ihrer Detailfreude konkurrieren sie mit der entsprechenden Rechnungslegung der Herzöge von Burgund. Die erworbenen Farben, insbesondere das extrem teure Ultramarin, lassen sich heute noch an denjenigen Fragmenten nachweisen, die von St Stephen's ins British Museum gewandert sind. Die Ausmalung begann nach Fertigstellung des Dachstuhls im August 1348 und zog sich bis 1360 hin. Verantwortlich für die Arbeiten war über einen langen Zeitraum hinweg Hugh of St Albans, der dafür die hohe (und völlig unübliche) Summe von 12 d. pro Tag erhielt. Die Oberkirche von St Stephen's präsentierte sich nicht nur farbig, sondern auch goldglänzend. Diesen Effekt erzielte eine Vielzahl kleiner Goldblättchen. Zwischen dem 21. Juni 1351 und Michaelis 1352 wurden davon allein über 70.000 angeschafft. Jedes Blättchen war 8-9cm2 groß, so dass allein damit eine Oberfläche von 567m2 bedeckt werden konnte. In der Edition liest sich das wie folgt: Idem computat in mm foliis auri emptis pro pictura capelle inter festum sancti Michaelis et festum Nativitatis domini iiij li. - The same accounts for 2.000 leaves of gold bought for the painting of the chapel between the feast of Michaelmas and the feast of the Lord's Nativity £4. [4]

Nach den Gehältern stellten die beim Bau verwendeten Steine den größten Ausgabeposten dar. Informationen erhält man nicht nur über das Baumaterial selbst, sondern auch über dessen Verkäufer und die Transportwege. Offensichtlich bevorzugte man beim Bau Kalkstein aus Reigate (Surrey), man bezog ihn aber auch von den bei Caen gelegenen Steinbrüchen. Von der Insel Purbeck (Dorset) stammte der sog. Purbeck-Marmor, ein fossilführender Kalkstein, der sich sehr gut polieren lässt und (wie in Westminster Abbey oder den Kathedralen von Exeter und Salisbury der Fall) v. a. für Säulen, Gewölbebögen und Böden herangezogen wurde. Auch der Fußboden der Oberkirche von St Stephen's wurde damit ausgelegt. Typisch hierfür ist folgender Eintrag: Johanni Canoun et Johanni Mayow pro mcc peciis marmoris emptis pro pavimento superioris capelle xxiiij li. In batillagio earumdem de Baynardescastel usque Westm' iij s. iiij d. [3]

Nicht nur Wirtschafts- und Kunsthistoriker werden reichen Ertrag aus der vorliegenden Edition sämtlicher für den Bau von St Stephen's relevanter Rechnungsquellen ziehen, die durch sorgfältig gearbeitete Indices erschlossen wird. Durch die sich jeweils auf der gegenüberliegenden Seite befindliche englische Übersetzung, für die Maureen Jurkowski verantwortlich zeichnet, eignet sich das Ganze auch für den Einsatz im akademischen Unterricht. Schließlich dürfte ein etwas genauerer Blick auf ein Kirchengebäude, das heute zwar (mit Ausnahme der Unterkirche, die als Kapelle für die Mitglieder des Parlaments dient) verloren ist, einstmals aber in seinem künstlerischen Anspruch mit der Pariser Sainte Chapelle wetteiferte, für all diejenigen von Interesse sein, die sich mit der Geschichte Englands im späten Mittelalter beschäftigen.


Anmerkungen:

[1] Elizabeth Biggs: St Stephen's College, Westminster. A Royal Chapel and English Kingship, 1348-1548, Woodbridge 2020; vgl. die Rezension von Ralf Lützelschwab, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 10 [15.10.2020], URL: http://www.sehepunkte.de/2020/10/34316.html.

[2] Die Eintragungen sind derart detailliert, dass auf ihrer Grundlage eine digitale visuelle Rekonstruktion des Kapelleninneren möglich wurde, vgl. http://www.virtualststephens.org.uk/explore.

[3] The Fabric Accounts of St Stephen's Chapel, no. 42, m. 2, 1236.

[4] The Fabric Accounts of St Stephen's Chapel, no. 42, m. 3, 1239.

Ralf Lützelschwab